6. Kapitel

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Als ich eine gute halbe Stunde später bei der Kleinen Eismanufaktur war, konnte ich Jack schon von weitem erkennen.

Er und seine Schwester, ein kleines Mädchen mit Stupsnase und strohblonden Haaren, saßen an einem der runden Tische im Schatten. Ich schätzte Mary auf fünf, aber ehrlich gesagt hatte ich von Kleinkindern keine Ahnung. Sie zappelte aufgeregt mit den Beinen, hielt jedoch abrupt inne und starrte mich mit kugelrunden Augen an, sobald ich vor ihnen anhielt. Sie hatte dieselben bernsteinfarbenen Augen ihres Bruders.

"Hi", grüßte ich Mary mit einem Lächeln und nickte Jack zu.

"Hallo", flüsterte Mary fast ehrfürchtig und ließ mich keine Sekunde aus den Augen, während ich meine Tasche von der Schulter gleiten ließ und mich zu ihnen setzte.

"Bin ich zu spät?", fragte ich mit einem Blick auf die Uhr.

"Nein, alles gut. Ich habe Mary nur gesagt, dass wir mit dem Eis auf dich warten. Und da ist jede Sekunde eine zu viel", erklärte Jack.

"Genau!", rief Mary und sah fordernd zu ihrem Bruder. "Ich will ein Schokoeis."

Jack sah zu mir. "Soll ich dir auch eins mitbringen?"

Ich nickte. "Gerne. Ich nehme eine Kugel Himbeere-Joghurt und eine Kugel Mango, bitte", zählte ich ihm auf. "Im Becher."

"Oh. Dann will ich auch zwei Kugeln!", beschloss Mary. "Zwei Kugeln Schoko."

Er schmunzelte und verschwand dann zur Schlange. Es waren nicht viele Leute da, aber er würde sicherlich ein paar Minuten weg sein. Bevor ich aber auch nur zu einer Unterhaltung mit Mary ansetzen konnte, erwachte sie aus ihrer Schockstarre und plapperte drauf los. Mit Fremden schien sie schon mal kein Problem zu haben.

"Woher kennst du meinen Bruder?", fragte sie neugierig und rutschte auf ihrem Stuhl nach vorne, um ihr Gesicht näher in meine Richtung zu bringen.

"Von der Nachhilfe", erklärte ich. "Gehst du schon zur Schule?"

Sie schüttelte schnell den Kopf. "Nein! Noch ein Jahr Kindergarten. Aber ich bin schon fünf!", erzählte sie mir begeistert und streckte mir eine volle Hand entgegen, alle fünf Finger von sich gespreizt.

"Wow!", spielte ich mit. "Dann hast du aber einen ganz schön großen Altersunterschied zu deinem Bruder, hmm?"

Sie legte den Kopf schräg und blinzelte mich an. "Ja. Weil wir haben nicht dieselbe Mama", sagte sie.

Oh. Achso. Sie schien diese Frage gewohnt zu sein, aber ich wollte nicht weiter herumstochern. In Jacks privaten Angelegenheiten.

"Ist Jack ein guter Bruder?", fragte ich stattdessen.

Sie nickte stolz. "Mhhm. Keiner im Kindergarten hat einen so coolen Bruder."

Ich lächelte. "Das glaube ich sofort." Nicht unbedingt, weil ich Jack so toll fand, aber weil ich früher einen älteren Bruder auch echt sehr cool gefunden hätte. Oder überhaupt ein Geschwister. Selbst wenn es wie bei ihnen nur ein Halbgeschwister wäre. "Und wo sind deine Eltern jetzt?"

Sie verzog das Gesicht. "Die machen einen Ausflug. Normal geh ich gerne zur Kinderbetreuung, aber heute hatte ich keine Lust. Nur deshalb habe ich geweint."

In der Zwischenzeit war Jack zurückgekommen und hielt Mary einen Becher mit zwei Schokokugeln hin. Gierig riss sie ihn an sich und löffelte drauf los. Er gab mir auch meinen Becher, bevor er sich setzte.

"Unsere Eltern haben heute Hochzeitstag. Deshalb sind sie für eine Nacht weggefahren", erklärte Jack, der den letzten Teil unseres Gesprächs gehört hatte.

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