Wach

5 0 0
                                    

Am nächsten Morgen weckte mich das penetrante Gurren einer Taube. Gähnend öffnete ich die Augen. Es war bereits hell. Ein Blick auf den Wecker zeigte mir jedoch, dass es noch nicht allzu spät war. Trotzdem fühlte ich mich so erholt, wie schon lange nicht mehr. Zufrieden drehte ich mich auf den Rücken und streckte die Arme und Beine aus. Ich hatte die ganze Nacht durchgeschlafen. Nicht ein einziges Mal war ich aufgewacht. Glücklich begann ich zu lächeln.

Mein Blick fiel auf die andere Seite des Bettes. Sofort kamen sämtliche Erinnerungen an den gestrigen Tag wieder hoch. Kyle schlief noch immer tief und fest. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Er hatte die Decke von sich gestrampelt, was mir einen hervorragenden Ausblick auf seine glatte, muskulöse Brust gewährte. Augenblicklich geriet ich ins Schwärmen.

Seine Haut war nicht ganz so blass wie meine. Sicher verbrachte er deutlich mehr Zeit in der Sonne als ich. Und vermutlich auch den ein oder anderen Tag im Fitnessstudio. So einen Körper bekam man garantiert nicht von allein. Dazu brauchte es mehr als gute Gene.

Vorsichtig rückte ich näher heran. Ich hätte ihn gerne einmal berührt. Hätte gerne einmal meinen Kopf auf seine Brust gelegt. Seinem Herzschlag gelauscht ... Nur einmal wollte ich mit den Fingern über seine glatte Haut streichen. Einmal die Wärme seines Körpers spüren und vielleicht sogar ...

Erschrocken hielt ich inne. Was dachte ich da nur schon wieder? Es juckte mich förmlich in den Fingern, ihn anzufassen. Doch das wäre definitiv zu weit gegangen. So etwas tat man nicht ohne Erlaubnis! Schon gar nicht bei einem fremden Gast!

Kyle war mehr als nur nett zu mir gewesen. Er hatte mir geholfen, ohne auch nur die geringste Gegenleistung zu verlangen. Und wie dankte ich es ihm? Ich musste mich auf irgendeine Weise erkenntlich zeigen. Aber wie?

Langsam setzte ich mich auf. Wann stand Kyle wohl normalerweise auf? Hätte ich einen Wecker stellen sollen? Oder fing seine Arbeit erst nach dem Mittag an? Vielleicht hatte er auch frei. Schließlich war heute Sonntag.

Während ich weiter darüber sinnierte, wie ich meinen Gast am Besten eine Freude bereiten könnte, landete plötzlich eine Hand auf meinen Oberschenkel. Erschrocken blickte ich zu Kyle. Dieser lag jedoch noch immer ruhig und friedlich da. Auch auf seinem Gesicht bemerkte ich keine Veränderung. Wahrscheinlich hatte er sich nur im Schlaf bewegt.

Sanft umfasste ich seine Hand und entfernte sie von meinem Bein, ohne dass er davon erwachte. Anschließend stand ich auf und ging ins Bad, um mich frisch zu machen.

Ich fühlte mich an diesem Morgen so gut wie schon lange nicht mehr. Mir war kein bisschen schwindelig. Auch die ständige Müdigkeit war verschwunden. Ich war hellwach und darüber hinaus voller Tatendrang.

Gut gelaunt stieg ich unter die Dusche. Danach putzte ich mir die Zähne und rasierte mich gründlich. Zum Schluss trug ich noch ein wenig Parfum auf. Natürlich tat ich dies nicht aus einem bestimmten Grund. Ich machte es nur, weil mir gerade danach war.

Als ich zurück ins Schlafzimmer kam, war Kyle wach und saß aufrecht da. "Guten Morgen", begrüßte er mich und schenkte mir dabei ein bezauberndes Lächeln. "Ich hätte nicht gedacht, dass du so früh auf bist."

Sein Haar war jetzt noch zerzauster als gestern. Es sah aus, als wäre er gerade in einen Wirbelsturm geraten. Jeder Frisör hätte bei diesem Anblick zur Schere gegriffen. Doch ihm selbst schien das nicht zu stören.

"Dir auch einen guten Morgen", wünschte ich ihm. "Normalerweise bin ich nicht so zeitig wach, aber wir sind gestern ziemlich früh zu Bett gegangen"

"Früh? Es war schon fast Mitternacht."

"Ich bin meistens bis Vier auf", informierte ich ihn schulterzuckend.

"Vier Uhr morgens? Ist das dein Ernst?"

"Manchmal gehe ich auch schon um drei schlafen."

"Das macht es nicht besser", behauptete Kyle und seufzte. "Komm mal her!"

Aufgeregt ging ich auf ihn zu. Bei jedem Schritt schien mein Herz ein wenig schneller zu schlagen. Als ich schließlich dicht vor ihm stehen blieb, klopfte er auf den Platz neben sich. Zögerlich ließ ich mich nieder.

Abrupt beugte Kyle sich vor. Auf einmal war er mir ganz nah. Näher als jemals zuvor. Vielleicht ein bisschen zu nah, wenn man es genau betrachtete. Hoffentlich konnte er mein rasendes Herz nicht hören.

Für eine gefühlte Ewigkeit musterte er mich. Sein Blick wanderte zuerst über meinen Hals, danach über meine Lippen und blieb schließlich an meinen Augen hängen. Als ich allmählich unruhig wurde und mich schon abwenden wollte, fragte er endlich: "Geht es dir besser?"

Wie konnte Kyle in dieser Situation nur so ruhig und gelassen bleiben? Er war definitiv nicht schwul! Ich fühlte mich gerade, als würde ich jede Sekunde explodieren und er nahm die Spannung zwischen uns nicht einmal wahr.

"Ja, viel besser, dank deiner Hilfe", antwortete ich ein wenig zu schnell.

"Möglicherweise solltest du deinen Lebensstil überdenken. Offenbar tut es dir nicht sonderlich gut, hier ganz alleine zu leben."

"Damit hat das nichts zu tun. Ich bin es gewohnt, alleine zu sein. Ich habe in letzter Zeit einfach nicht genug auf mich geachtet. Aber das wird sich jetzt ändern."

"Bist du sicher?", fragte Kyle und strich mir besorgt eine Haarsträhne aus dem Gesicht, eine Geste die mein Herz zum stocken brachte.

Überzeugt nickte ich. "Das gestern war nur ein harmloser Schwächeanfall. Ich habe in letzter Zeit oft schlecht geschlafen. Das hat mich aus dem Gleichgewicht gebracht."

"Du solltest versuchen, in Zukunft früher zu Bett zu gehen."

"Werde ich", entgegnete ich mit einem Lächeln, was hoffentlich nicht allzu gezwungen wirkte. Dann wechselte ich das Thema. "Musst du heute arbeiten?"

"Gegen Zehn muss ich mich bei der Agentur melden. Die werden mir sagen, was heute anliegt. Aber meistens gibt es Sonntags nicht viel zu tun."

"Du kannst gerne noch eine Weile bleiben, wenn du möchtest. Ich kann dir auch Frühstück machen."

"Kannst du das wirklich?" Kyle schaute mich zweifelnd an.

"Natürlich. Ich bin vielleicht kein guter Koch, aber dafür habe ich das allerbeste Brot im Haus. Meine Köchin hat es am Freitag selbst gebacken."

"Du solltest mich nicht zu sehr verwöhnen, Ayden. Sonst wirst du mich am Ende vielleicht nicht mehr los", meinte Kyle lachend und stand auf. Er strubbelte mir kurz durch das braune Haar, sodass ich mich für einen Moment wie ein kleines Kind fühlte. Dann verschwand er im Bad.

"Vielleicht will ich das auch gar nicht ... ", flüsterte ich und beschloss im selben Atemzug ihm das beste Frühstück aller Zeiten zuzubereiten. So schwer konnte das doch nicht sein. Oder?

SeelenverwandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt