Abschied

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Die folgenden Stunden vergingen wie im Fluge. Je mehr Zeit ich mit Kyle verbrachte, desto wohler fühlte ich mich in seiner Nähe. Er strahlte Ruhe und Geborgenheit auf eine Weise aus, die ich vorher nie gekannt hatte.

Nach dem Ende des Filmes kümmerten wir uns um ein anständiges Mittagessen. Aufgrund der begrenzten Auswahl an Zutaten entschieden wir uns letztendlich für Nudeln. Kyle kochte und ich schaute ihm dabei zu. Helfen wollte ich ihm lieber nicht. Das hätte nur im Chaos geendet.

“Du solltest dringend deine Vorräte aufstocken”, riet er mir, nachdem er einen Blick in meine Abstellkammer geworfen hatte.

“Ich habe meiner Köchin schon eine Nachricht geschrieben. Sie bringt morgen etwas mit.”

“Gehst du niemals selbst einkaufen?”

Ich schüttelte den Kopf. “Nein, war ich noch nie. Wenn ich etwas Bestimmtes brauche, schreibe ich es einfach auf.”

“Und irgendjemand besorgt es dir dann?”

“Genau.”

“Ich bin zwar kein Fan von großen Shoppingtouren, aber dennoch würde ich nie jemanden beauftragen, meine Einkäufe für mich zu erledigen.”

“Ich bin es halt so gewohnt.”

Kyle schwieg. Er stellte den Herd aus und goss die Nudeln ab. Die Tomatensauce stammte aus einem Glas, der Reibekäse aus dem Kühlschrank. Fleisch gab es keines. Dennoch schmeckte es uns beiden sehr gut.

Um zwei Uhr war es schließlich an der Zeit, sich zu verabschieden. Wir tauschen Nummern aus und ich begleitete ihn bis zum Gartentor. Sein Motorrad hatte das gestrige Unwetter gut überstanden. Es war nur ein wenig nass geworden.

Kyle nahm ein Tuch aus seiner Satteltasche und trocknete die Maschine damit ab. “Geh nicht so spät schlafen”, wies er mich währenddessen an. “Und sieh zu, dass du regelmäßig isst. Reisen sind immer ein wenig anstrengend. Da solltest du besser fit sein.”

Ich nickte ergeben, ging aber nicht näher auf seine Worte ein. Offenbar gefiel Kyle meine Reaktion nicht sonderlich, denn kurz darauf ermahnte er mich: “Wenn du dich am Dienstag nicht wohl fühlst, werden wir nicht fahren, Ayden. Also sieh zu, dass du gesund bleibst.”

“Werde ich”, versprach ich ihm mit Nachdruck. “Ich werde mich gesund ernähren, ausreichend trinken und viel schlafen.”

“Und gehe hin und wieder mal an die frische Luft.”

“Geht klar.”

Seine übertriebene Fürsorge nervte mich ein wenig. Doch als er seinen Helm aufsetzte und auf sein Motorrad stieg, wurde mir plötzlich ganz schwer ums Herz. Es war nur eine kurzzeitige Trennung. Spätestens am Dienstag würde ich ihn wiedersehen. Dennoch wollte ich nicht, dass er ging. Es machte mich traurig. Warum hing ich nur so sehr an ihn?

“Ich rufe dich heute Abend an”, versprach mir Kyle zum Abschied und strich liebevoll, beinahe tröstend über meinen Arm.

“Fahr vorsichtig.”

“Werde ich. Bis bald.”

Kyle startete den Motor, gab Gas und fuhr davon. Ich sah ihm noch lange nach. Selbst als er hinter der nächsten Kurve verschwand, bewegte ich mich nicht vom Fleck.

Nunmehr war ich wieder allein. Wenn auch nur für wenige Stunden. Betrübt schaute ich zum Himmel hinauf. An diesem Tag wurde ich nicht von der Sonne geblendet. Stattdessen hing eine dichte, graue Wolkendecke über mir. Ohne Kyle war die Welt nur noch halb so schön.

Seufzend ging ich zurück ins Haus. Was sollte ich jetzt mit dem angebrochenen Tag machen? Am liebsten hätte ich mich einfach ins Bett gelegt, doch dazu war es eindeutig noch zu früh. Stattdessen lief ich ins Arbeitszimmer und testete zum ersten Mal das alte Telefon aus. Es funktionierte!

“Was gibt es, Darling?”

“Hallo Ma, ich möchte dich um was bitten.”

“Das da wäre?”

“Eine Einladung zum Wohltätigkeitsball am Dienstag.”

Ein Freudenschrei ertönte. “Du kommst? Schatz, Ayden kommt… Wohin? Zum Ball natürlich… Nächste Woche! … Willst du mit ihm sprechen? … Ja, ich werde daran denken… Nur ganz kurz. So viel Zeit muss sein! Immerhin haben wir nur den einen Sohn.”

Ich verdrehte genervt die Augen. Das konnte dauern.

“... Meine Schuld? Was willst du denn damit sagen? Es ist doch nicht meine Schuld, dass wir nur ein Kind haben. Ich wollte immer eine große, glückliche Familie haben! … Ja, natürlich weiß ich das… Aber ich konnte doch unmöglich alles aufgeben… Das spielt jetzt auch gar keine Rolle mehr… Lass uns später darüber sprechen! Entschuldige, Darling. Das war eben dein Vater.”

“Dachte ich mir schon”, entgegnete ich, denn es war nicht das erste Mal, dass unser Telefonat auf diese Weise ablief. Vielmehr hatte ich damit gerechnet. Ich nutzte den kurzen Moment der Ruhe, um ihr schnell mein Anliegen mitzuteilen: “Ich wollte dich nur fragen, ob du mir ein Hotelzimmer buchen kannst. Zwei Zugtickets bräuchte ich auch.”

“Aber sicher doch, Darling. Was immer du willst. Ich freue mich ja so, dass du kommst. Hab ich dir eigentlich schon erzählt, dass wir letzte Woche bei Achenbergs zu Gast waren. Die haben eine ganz entzückende Tochter. Ich muss sie dir unbedingt einmal vorstellen. Und hast du schon die Geschichte von den Mettichs gehört? Ein Skandal, sag ich dir. Da ist er doch ernsthaft nicht… Ja, ich komme doch gleich, Manfred! Immer diese Eile. Wo war ich? Ach bei den Mettichs. Jetzt fällt es mir wieder ein. Der alte Herr Mettich ist nicht zum Geburtstag seiner Tochter erschienen. Natürlich war es kein runder Geburtstag, aber dennoch gehört sich das nicht, finde ich. Was sollen denn die Leute denken? Jetzt glaubt jeder, sie hätten sich zerstritten. Vielleicht wegen des Erbes. Isabell meint, er würde die Firma seinem Sohn überlassen. Sie hat da so ein Gerücht gehört, als sie letztens beim Friseur war. Apropos Friseur, im Salon Prima bieten sie jetzt eine neue Haarkur an. Die ist ganz wunderbar. Soll ich dir da mal einen Termin machen, Darling?”

“Das ist wirklich nicht nötig, Ma. Ich hab mir doch erst vor zwei Wochen die Haare schneiden lassen.”

“Wie du meinst. Aber falls du deine Meinung änderst, kannst du jederzeit bei mir anrufen. Du meldest dich ohnehin viel zu selten. Wie der Sohn von den Schwabens. Wusstest du eigentlich, dass Schwabens einen Sohn haben? Ein hübscher Junge. Toni heißt er glaube. Oder Tobias? Ist ja auch egal. Er ist letzten Monat 18 geworden. Würde dir bestimmt gefallen… Ja, ist gut. Ich höre ja schon auf! Dein Vater will, dass ich aufhöre, dich zu verkuppeln. Dabei macht er doch genau dasselbe. Ständig sagt er zu seinen Geschäftspartnern, sie sollen ihre Söhne beim nächsten Treffen mitbringen. Als würde das irgendetwas bringen. Du bist ja so eigensinnig… Es geht ja schon los. Nur noch eine Minute! … Hast du ihn gehört? Er hat es mal wieder eilig. Wir sind nämlich noch verabredet. Nichts Wichtiges. Nur ein belangloses Geschäftsessen. Jedenfalls muss ich jetzt los, sonst zerrt mich dein Vater gleich eigenhändig ins Auto. Lass uns bei Gelegenheit mal wieder plaudern.”

“Also denkst du an die Einladungen?”, fragte ich sicherheitshalber nochmal nach, denn Mutter vergaß vor lauter Reden oftmals das Wesentliche.

“Ich lass sie an der Rezeption hinterlegen. Um alles andere kümmert sich Olga. Wir sehen uns dann am Dienstag, Darling.”

Das Gespräch endete ebenso schnell, wie es begonnen hatte. Mama legte auf, bevor ich mich angemessen verabschieden konnte. Doch das war bei ihr Gang und Gäbe. Sie ließ einen kaum zu Wort kommen. Wäre Vater nicht im Hintergrund gewesen und hätte sie immerwährend ermahnt, würde ich in drei Stunden noch hier sitzen und mir ihre Anekdoten anhören dürfen. Dabei interessierte mich Klatsch und Tratsch kein bisschen. Die neusten Skandale der High Society waren für mich nicht relevant. Ich kannte all diese Menschen nicht und hatte auch gar kein Bedürfnis, sie kennenzulernen. Aber diese Tatsache hielt Mama nicht davon ab, mich auf dem Laufenden zu halten. Sie setzte nun einmal andere Prioritäten in ihrem Leben.

Nach dem Telefonat sehnte ich mich nach einem Ort der Stille. Ein kühler Ort, der von der Außenwelt abgeschottet war. Ich ging die Kellertreppe hinab. Unten gab es einen Billardtisch, eine elektronische Dartscheibe, eine moderne Soundanlage und einen Flachbildfernseher. Natürlich durfte auch ein großes, gemütliches Sofa im Hobbykeller nicht fehlen. Ich ließ mich darauf nieder und starrte ins Leere.

Auf einmal fühlte ich mich schrecklich einsam. Ich vermisste Kyle. Dabei kannte ich ihn doch erst seit gestern. Es war, als würde plötzlich ein wichtiger Teil in meinem Leben fehlen. Irgendetwas verband uns, doch ich wusste beim besten Willen nicht, was es war.

SeelenverwandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt