Aufmerksamkeit

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Laute Musik umfing uns, als wir das viktorianische Herrenhaus betraten. Gigantische, goldene Kronleuchter zierten die getäfelte Decke des Ballsaals. Meterhohe Fenster schmückten eine der vier Wände. Gegenüberliegend war eine Vielzahl an antiken Gemälden zu finden. Hinter einer roten Absperrung waren weiße Vitrinen aufgebaut. Darin befanden sich die Gegenstände für die spätere Auktion.

Während ich meinen Gehstock im Takt der Musik schwänkte, stellte ich fest, dass ich die Wirkung unserer Outfits vollkommen unterschätzt hatte. Ich hatte damit gerechnet, dass einige Gäste uns unauffällig beobachten und über uns reden würden. Doch das war nicht der Fall. Als wir durch die Türe traten, verstummten für einen Moment sämtliche Gespräche. Nicht nur die Gäste, auch die Kellner starrten uns mit einer Mischung aus Faszination, Neid und Missgunst an. Doch keiner traute sich, uns anzusprechen. Stattdessen hielten sie Abstand und warteten einfach ab.

“Was hat das antike Rom mit den bedrohten Tierarten in der Arktis gemein?”, fragte mich Kyle und blieb neben einer der vielen Steinsäulen stehen. “Mir erschließt sich nicht ganz der Sinn dahinter.”

“Weil es keinen gibt. Die Gastgeberin scheint die Antike einfach mehr zu mögen als die Antarktis.”

“Dann solltet ihr lieber für den Erhalt historischer Denkmäler spenden.”

“Tierschutz kommt besser bei den Medien an.”

Kyle wollte noch etwas sagen, doch er kam nicht der mehr zu Wort, weil Mama uns in diesem Moment entdeckte.

“Ayden?”, quietsche sie und stöckelte in ihren hohen Schuhen auf mich zu. Hinter ihr sah ich meinen Halbbruder Conor, natürlich in Begleitung einer mir völlig fremden Frau.

“Du bist wirklich hier, Darling. Und du siehst großartig aus. Olga hat ganze Arbeit geleistet. Lass dich einmal ansehen, mein Engel.”

Während ich ausführlich von allen Seiten betrachtet wurde, hatte auch Conor uns erreicht. “Lange nicht gesehen, Ayden. Das ist meine Freundin Leyla. Ich habe sie auf meiner letzten Kreuzfahrt kennengelernt.”

“Hallo”, begrüßte ich die orientalisch aussehende Frau, nachdem Mama endlich von mir abließ. Gleich darauf deutete ich auf meinen Begleiter. “Das ist Kyle.”

“Gewagtes Outfit, Kyle. Ich bin Aydens Bruder Conor.”

“Freut mich.” Sie schüttelten einander kurz die Hände.

“Ihr stiehlt heute jedem die Show. Das wird einigen Gästen ganz und gar nicht gefallen.”

“Dann sollen sie sich an Olga wenden”, teilte ich meinem Bruder mit.

“Wenn man vom Teufel spricht. Da kommt sie auch schon. Wir machen uns besser vom Acker, Leyla. Olga ist momentan nicht sehr gut auf mich zu sprechen.”

“Wieso das? Was hast du schon wieder angerichtet, Conor?”, fragte Mama aufgebracht.

“Gar nichts. Ich habe ihr lediglich zu verstehen gegeben, dass sie sich nicht in mein Leben einzumischen hat. Das fand sie scheinbar nicht so toll. Wir sehen uns später, Ayden. War nett dich kennenzulernen, Kyle.”

Leyla und Conor verschwanden gerade noch rechtzeitig auf der Tanzfläche, denn im nächsten Moment war Olga auch schon bei uns.

“Du solltest dringend mit ihm reden, Angelica. Das ist seine dritte Freundin in zwei Wochen.”

“Das ist nicht meine Aufgabe. Er ist nicht mein Sohn”, entgegnete Mama unbekümmert.

“Aber er ist ein Teil deiner Familie. Sein Verhalten schadet…” Olgas Blick fiel auf Kyle und sie vergaß, was sie sagen wollte. “Ist das dein Begleiter?”, fragte sie stattdessen und klang dabei mehr als entsetzt.

“Ja, das ist Kyle. Er hat sich extra einen neuen Anzug gekauft für den Ball heute.”

“Und ein neues Hemd”, fügte Kyle grinsend hinzu. “Damit ich gegen Ayden überhaupt eine Chance habe.”

“Eine Chance? Du…”

“Kein Wort, Olga. Lass es gut sein. Ich bin unendlich dankbar, dass Ayden heute hier ist. Das ist keine Selbstverständlichkeit.”

Glücklicherweise hörte Olga auf Mama, wenn auch nur ungern. “Ich werde nach der Auktion sehen. Wir sollten mindestens zwei Stücke ersteigern", informierte sie uns.

“Wo ist eigentlich Papa?”, fragte ich, nachdem sie gegangen war.

“Wo wohl, beim Buffet. Aber solange er beschäftigt ist, habe ich freie Hand. Das gibt mir die Gelegenheit, euch ein paar Leute vorzustellen. Schwabens sind hier und Achenbergs natürlich auch. Kommt mit. Wir werden sie suchen.”

Wenig begeistert folgte ich Mama durch den riesigen Ballsaal. Sie stellte uns ein gutes Dutzend Leute vor. Ich merkte mir kein einziges der Gesichter. Dafür gewann ich andere, wichtige Erkenntnisse. Mettichs hatten sich offenbar wieder versöhnt. Zumindest waren Vater und Tochter gemeinsam erschienen. Schwabens Sohn hieß weder Toni noch Tobias, sondern Thomas und die Tochter der Achenbergs war längst nicht so entzückend, wie Mama am Telefon behauptet hatte. Sie sprach kein Wort, blickte aber dafür pausenlos zu Kyle. In ihren Augen stand deutlich geschrieben, wonach sie sich gerade sehnte. Allerdings durchkreuzte Kyle ihre Wünsche in dem Moment, als er mich fragte, wo die Toiletten seien. Dankbar zeigte ich ihm den Weg, denn dies war die perfekte Gelegenheit, um Mamas Vorstellungsrunde zu entkommen.

Im Waschraum war es ruhig und kühl. Man hörte weder die Musik, noch das Stimmengewirr von draußen.

“Wenn das so weitergeht, wirst du mich heute nicht mehr tanzen sehen”, meinte ich zu Kyle, der sich gerade die Hände wusch.

“Und das obwohl deine Mutter uns den halben Saal vorgestellt hat?”

“Darauf hätte ich gut und gerne verzichten können.”

“Ich mach dir einen Vorschlag: Wir essen jetzt eine Kleinigkeit und wenn du danach noch immer keine Tanzpartnerin gefunden hast, werde ich selbst mich opfern und diese Rolle übernehmen.”

“Du willst was?” Überrascht schaute ich zu Kyle auf.

“Mit dir tanzen. Oder dir wahlweise auch auf die Füße treten.”

“Aber…?”

“Kein aber! Wir erregen so oder so Aufmerksamkeit. Ich wette, die Reporter haben schon Hunderte Fotos von uns. Du kannst froh sein, dass sie noch keine Fragen gestellt haben.”

“Das werden sie aber, wenn wir gemeinsam auf der Tanzfläche stehen.”

“Glaube ich nicht. Sie werden sich ihre Fragen selbst beantworten, solange wir zusammen bleiben. Sie werden denken, dass wir uns absichtlich so auffällig erhalten und früher oder später das Interesse verlieren.”

Ich zweifelte daran. Doch mir fiel auch keine bessere Idee ein. “Lass uns zum Buffet gehen”, stimmte ich Kyle darum zu, auch wenn ich befürchtete, dass sein Plan nicht aufgehen würde. Ich war in der High Society aufgewachsen. Ich wusste, wie das System funktionierte. Im Moment waren wir die auffälligsten und damit auch interessantesten Gäste auf dem Ball. Nur ein Skandal konnte uns noch von den Titelseiten der Morgenausgaben vertreiben. Es war langsam an der Zeit, auf ein Wunder zu hoffen!

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