Begierde

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Kyle hatte diesmal seinen Kulturbeutel mitgebracht, sodass ich ihm weder eine Zahnbürste noch mein Duschgel zu leihen brauchte. Nur Handtücher benötigte er von mir und das stellte kein Problem dar, denn ich besaß mehr als genug.

“Was für ein Service”, bemerkte Kyle, als ich sie ihm reichte. “Wenn das so weitergeht, werde ich noch zum Stammgast.”

“Genug Platz hättest du hier”, entgegnete ich leichthin.

“Definitiv. Und nette Gesellschaft obendrein.” Er zwinkerte mir zu, was ich gekonnt ignorierte.

Ich ließ ihn zuerst ins Bad gehen und zog währenddessen die Tagesdecke ab. Außerdem schüttelte ich die Kissen auf und lüftete noch einmal gut durch. Nach Sonnenuntergang waren die Temperaturen glücklicherweise ein wenig gesunken. Es war nicht mehr ganz so schwül wie am Tage.

Ich blickte eine Weile nachdenklich aus dem Fenster heraus. In keinem der anderen Häuser brannte Licht. Selbst in den Gärten war es finster. Einzig die Straßenlaternen spendeten ein wenig Helligkeit und warfen lange Schatten über die einsam daliegende Straße.

Am Himmel war kein Mond zu sehen. Nur ein paar vereinzelte Sterne. Ich begann mich zu fragen, wie andere Menschen dort oben irgendwelche Sternbilder erkennen konnten. Ich sah nur einzelne Punkte und wusste beileibe nicht, wie man diese miteinander verbinden sollte.

Als ich das Zuschlagen einer Tür vernahm, drehte ich mich hastig um. Kyle war schon fertig. Offenbar hatte er sich heute beeilt.

“Du kannst”, informierte er mich gut gelaunt und setzte sich auf das Bett.

“Sofort”, erwiderte ich und schloss schnell das Fenster. Gleich darauf betrat ich das Badezimmer.

Während ich unter der Dusche stand, verselbständigten sich meine Gedanken wieder einmal. Nur wenige Minuten vor mir hatte Kyle an eben dieser Stelle gestanden. Nackt!

Ich erschauerte. Meine Fantasie reichte nicht aus, um mir Details vorzustellen, aber die bloße Tatsache, dass er hier gewesen war, genügte. Normalerweise verdrängte ich derartige Gefühle, sobald sie aufkamen, doch diesmal funktionierte es nicht. Mir wurde schrecklich heiß. Mein Verlangen wuchs ins Unermessliche an und ehe ich es verhindern konnte, strichen meine Hände bereits über meinen erhitzten Körper Richtung Süden.

Als ich mich umfasste, musste ich ein Stöhnen unterdrücken. Es fühlte sich an, als würde ich gerade etwas Verbotenes tun. Etwas, von dem niemals irgendjemand erfahren durfte. Ich wusste, dass es falsch war. Trotzdem konnte ich unmöglich damit aufhören. Es war zu spät!

Meine Berührungen waren behutsam und sanft. Vorsichtig fuhr ich auf und ab, ohne dass ein Ton über meine halb geöffneten Lippen drang. Während ich das gleichmäßige Tempo beibehielt, spürte ich, wie das Wasser der Dusche auf meinen Rücken traf. Die leichte Massage feuerte meine Begierde zusätzlich an. Ich sehnte mich immer mehr nach Erlösung, genoss aber zugleich den Druck, der sich allmählich in mir aufbaute.

Schließlich wurde mein Griff stärker, meine Bewegungen schneller und energischer. Ekstatisch schloss ich die Augen. Sofort tauchte Kyle's Bild in meinem Kopf auf. Ich sah braun gebrannte Muskeln, wirre Haare, Sommersprossen und waldgrüne Augen! Mein Herz klopfte und mein Atem beschleunigte sich. Diese Lippen... Dieses geheimnisvolle Lächeln… Gleich… Nur noch wenige Sekunden…

Nach einer letzten, intensiven Berührung, gab ich mich vollends meinen Gefühlen hin. Lust und Ekstase benebelten meine Sinne. Stöhnend erreichte ich den Höhepunkt.

Erleichterung ersetzte die Sehnsucht, innere Ruhe, das heftige Verlangen. Ich fühlte mich zufrieden und frei. So als hätte jemand all meine Sorgen von mir genommen. Mein Kopf war vollkommen leer.

Für eine Weile genoss ich das entspannte Gefühl. Doch schließlich öffnete ich die Augen und kehrte in die Wirklichkeit zurück. Sämtliche Erinnerungen stürmten gleichzeitig auf mich ein. Was hatte ich nur getan? Hatte ich mir gerade wirklich…? Und das nur, weil Kyles Anblick so unwiderstehlich war? Wie konnte ich nur?

Frustriert stieß ich mit dem Kopf an die kalten Fliesen. Ich bereute meine Tat zutiefst. Wieso hatte ich es so weit kommen lassen? Warum war ich nur so unvernünftig?

Ich hatte gehofft, meine Gefühle für Kyle würden mit der Zeit nachlassen, doch eher das Gegenteil schien der Fall zu sein. Meine Gedanken und Träume wurden immer unanständiger. Jedes Wort von ihm reizte mich, jeder Blickkontakt vergrößerte meine Sehnsucht.

Es war an der Zeit, den Tatsachen ins Auge zu sehen: Ich wollte ihn! Mit Haut und Haaren. Wollte jeden Zentimeter seiner Haut berühren, wollte ihn umarmen, ihn küssen und wollte, dass er mich liebte! Nicht nur für eine Nacht, sondern für immer. Er sollte mein sein!

Mir war bewusst, dass diese Gefühle nicht so schnell wieder verschwinden würden. Ich hatte versucht, sie zu unterdrücken und es war mir nicht gelungen. Früher oder später musste ich Kyle die Wahrheit offenbaren. Vorzugsweise, bevor er sie von selbst herausfand. Ich musste ihm entgegentreten und ihm alles gestehen. Aber nicht heute!

Nachdem ich mir die Zähne geputzt und mein Seidenhemd angezogen hatte, verließ ich todesmutig das Badezimmer. Ich glaubte, für alles gewappnet zu sein. Falls Kyle mein Stöhnen gehört hatte, würde ich behaupten, ich hätte mich gestoßen. Falls er sich über meine roten Wangen wunderte, würde ich ihm erklären, dass es am warmen Wasser lag. Und falls er gar nichts sagte, würde ich ihm einfach eine gute Nacht wünschen und zu Bett gehen. Ich war für jede Konfrontation bereit und hatte die besten Ausreden parat. Furchtlos zog ich in den Kampf. Unerschrocken blickte ich der Gefahr entgegen und …

… stellte fest, dass Kyle tief und fest schlief. Seine Brust hob und senkte sich gleichmäßig unter dem dünnen Stoff der Decke. Offenbar hatte ich ein wenig zu lange im Bad gebraucht. Über eine Stunde, wie mir ein kurzer Blick auf die Uhr versicherte. Es würde keinen Kampf geben. Meine Ausreden waren allesamt nutzlos. Kyle hatte nichts bemerkt. Ich war noch einmal davongekommen.

Erleichtert legte ich mich neben ihn, wandte ihm sicherheitshalber den Rücken zu und schaltete das Licht aus. Eine ganze Weile starrte ich in die Dunkelheit und versuchte, Herr über meine Gefühle zu werden. Irgendwann jedoch siegte die Müdigkeit. Mir fielen die Augen zu und ich schlief endlich ein.

SeelenverwandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt