Anfahrt

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Wir wurden pünktlich von Albert abgeholt. Kurz vor um sieben klingelte das Telefon und man teilte mir mit, dass der Chauffeur soeben angekommen war. Als Kyle und ich aus dem Fahrstuhl stiegen, ernteten wir einige erstaunte Blicke. Während ich mich am liebsten in einem dunklen Keller verkrochen hätte, schien Kyle die Aufmerksamkeit zu genießen. Er lächelte selbstbewusst, als wir Seite an Seite durch die Halle schritten, wobei uns mindestens zwei Dutzend Augenpaare verfolgten.

Der glänzende rote Ferrari stand direkt vor dem Hoteleingang mitten im Blitzlichtgewitter dank zahlreicher Passanten, die offenbar noch nie in ihrem Leben solch ein Auto aus nächster Nähe gesehen hatten. Albert stieg aus und hielt uns die Tür auf. Der Wagen bot Platz für bis zu vier Personen. Da wir nur zu dritt waren, blieb der Beifahrersitz leer.

Während der Portier versuchte, die Schaulustigen zu vertreiben, ließen Kyle und ich uns auf den weichen Lederpolstern nieder und schnallten uns an. Aus dem Radio ertönte leise Musik und die Klimaanlage lief auf Hochtouren.

Albert hupte einmal kurz, gab dann Gas und fuhr in rasantem Tempo auf die Straße. Auch in der Kurve bremste er kaum ab, was Kyle offenbar nicht sonderlich gefiel.

“Ist es erlaubt, hier so schnell zu fahren?”, fragte er mich, während er sich mit den Händen im Polster festkrallte.

“In einem Ferrari ist alles erlaubt. Dieser Wagen ist ein Statussymbol!”, entgegnete ich und öffnete das Fenster. Der Fahrtwind blies mir ins Gesicht.

“Alles?” Kyle's waldgrüne Augen blickten mich herausfordernd an.

“Fast alles”

“Schade”

Wildes Hupen ertönte, als Albert auf der Hauptstraße ein paar schicke Sportwagen überholte, eine gelbe Ampel hinter sich ließ und um die nächste Kurve raste.

“Ich hoffe, dass ich diese Fahrt überleben werde”

“Sicher wirst du das.”

“Ich fahre seit 30 Jahren unfallfrei.”

Kyle blickte unseren Chauffeur zweifelnd an.

“Er sagt die Wahrheit”, versuchte ich ihn zu beruhigen. “Wir sind hier vollkommen sicher. Also lehne dich zurück und genieße die Fahrt.”

Kyle folgte meinem Ratschlag. Jedoch bevorzugte er es, sich an meine Schulter zu lehnen. Eine Hand lag auf meinem Oberschenkel, während er die Augen schloss und vermutlich für das baldige Ende unserer rasanten Fahrt betete.

Ihm so nahe zu kommen, war einerseits sehr schön, andererseits aber auch sehr gefährlich. Immer wieder schielte ich auf seine Hand herab, die definitiv viel zu weit oben lag. Viel zu dicht an…

Ich schloss die Augen. Bloß nicht daran denken! Ganz ruhig und gelassen bleiben. Alles ist gut. Wir sind nur Freunde. Es wird rein gar nichts passieren.

Ich brauchte dringend Ablenkung. Darum bat ich Albert, den Sender zu wechseln und die Musik lauter zu drehen. Natürlich erzeugten wir damit nur noch mehr Aufmerksamkeit, doch das war mir in diesem Moment egal.

Olga wollte, dass ich auf dem Ball wie ein geheimnisvoller, attraktiver Mann wirkte. Sie wäre sicher nicht begeistert, wenn sie stattdessen einen bis über beide Ohren verliebten Teenager bekäme. Glücklicherweise kühlte mich der Fahrtwind ein wenig ab und mein Makeup war so dick, dass man mir meine Gefühle wohl kaum ansehen würde.

Ich schaute zu Kyle. Jetzt, wo wir eine geradlinige Bundesstraße entlangfuhren, wirkte er wesentlich entspannter. Ich beneidete ihn um seine ausgeglichene, lockere Art. Und auch ein kleines bisschen um die Muskeln, die man unter dem Netzhemd sehr gut erkennen konnte. Für ihn schien das Leben so einfach zu sein. Er wusste genau, was er wollte. Und ich? Es gab nur eine Sache, die ich mir momentan wünschte und diese war leider unmöglich.

Ich seufzte. Daraufhin öffnete Kyle seine Augen. “Panik vor dem Ball?”, fragte er mich.

“Ein wenig.”

“Keine Sorge. Ich werde dir nicht von der Seite weichen. Selbst dann nicht, wenn die Security mich rausschmeißen will.”

“Warum sollte sie? Du hast eine Einladung.”

“Vielleicht benehme ich mich ja falsch.”

“Bei der letzten Wohltätigkeitsveranstaltung, auf der ich war, hatte eine Frau zu viel getrunken, sich alsdann in den nächsten Blumentopf übergeben und durfte trotzdem bleiben. Man hat ihr lediglich ein Glas Wasser gereicht.”

“Was ist das Schlimmste, was du jemals mit ansehen musstest?"

“Als ich neun Jahre alt war, wurden wir zu einer exklusiven Privatparty eingeladen. Nur 50 Gäste. Es sollte eine Verlobungsfeier im kleinen Kreis sein. Während des Dinners hörten wir auf einmal, wie eine Scheibe zerbrach. Kurz darauf stürmte eine junge Frau in den Raum und griff die zukünftige Braut an. Es stellte sich heraus, dass sie eine Exfreundin des Verlobten war.”

“Wie ist die Sache ausgegangen?”

“Der Hausherr hat die Polizei gerufen und Anzeige erstattet.”

“Und die Hochzeit fand statt?”

“Ja, aber soweit ich weiß, hat die Ehe nicht lange gehalten. Was ist das Schlimmste, was du jemals erlebt hast?”

Kyle stockte. Mit dieser Frage hatte er wohl nicht gerechnet. “Erzähle ich dir ein andermal”, antwortete er mir ausweichend.

“Wieso nicht jetzt?”

“Weil wir gleich da sind”, meinte er und deutete dabei nach draußen.

Ich blickte aus dem Fenster und sah, wie wir durch eine breite Allee fuhren. Es wurde allmählich dunkel, doch der Weg war gut beleuchtet. Albert drosselte das Tempo, als vor uns ein schwarzer Lamborghini auftauchte.

“Offenbar kann man mit dem Wagen auch langsam fahren”, bemerkte Kyle.

“Nur in Ausnahmefällen. Das schadet sonst dem Image”, erwidere ich.

Als wir an ein gigantisches, schwarzes Tor gelangten, trat ein Portier auf mich zu. Ich sagte ihm meinen Namen und reichte ihm unsere Einladungen. Daraufhin ließ er uns passieren. Wenig später kam unser Ziel in Sicht: Ein viktorianisches Herrenhaus. Während wir uns dem Anwesen näherten, schloss ich das Fenster. Sicher wimmelte es hier nur so von Reportern.

Albert stellte die Musik leiser. Kurze Zeit später hielten wir auf einem breiten Platz an.

“Bist du bereit?”, fragte mich Kyle lächelnd.

“Kein bisschen, aber irgendwie werden wir den Abend schon überstehen.”

“Das ist die richtige Einstellung.”

Aufgeregt stieg ich aus dem Ferrari und wurde sogleich von mehreren blitzenden Kameras begrüßt. Das konnte ja heiter werden…

SeelenverwandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt