Wieder im Hotel suchte Kyle seine Sachen zusammen und packte sie in seinen Rucksack. Ich konnte ihm dabei nicht viel helfen. Stattdessen betrat ich, nachdem ich mir sorgfältig den Lippenstift von der Wange gewaschen hatte, zum Abschied noch einmal den Balkon und genoss die Aussicht. Wir hatten kaum die Chance gehabt, alle Annehmlichkeiten des Hotels zu nutzen. Dazu war die Zeit einfach zu kurz gewesen. Dennoch würde ich den Aufenthalt dank letzter Nacht niemals wieder vergessen. Vielleicht konnten wir eines Tages noch einmal hierher kommen und dann etwas länger bleiben. Ich würde es mir wünschen.
Irgendwann trat Kyle an meine Seite und meinte: “Du wirkst nachdenklich. Machst du dir Sorgen?”
“Nein, gar nicht”, antwortete ich. “Ich habe nur daran gedacht, wie schnell die Zeit vergangen ist. Es fühlt sich an, als wären wir gerade erst angekommen.”
“Zwei Tage sind eindeutig zu wenig.”
“Vielleicht können wir das irgendwann noch einmal wiederholen.”
“Da sage ich nicht nein.”
Hand in Hand verließen wir die Suite. Albert fuhr uns zum Bahnhof und wünschte uns eine angenehme Reise. Der Zug kam pünktlich und die erste Klasse war abermals kaum besetzt, sodass wir freie Platzwahl hatten. Ich lehnte mich in die weichen Polster zurück und versuchte mich zu entspannen. Die Nacht war sehr kurz gewesen und dank des gleichmäßigen Rattern des Zuges fielen mir alsbald die Augen zu.
Auf einmal befand ich mich in einer großen Säulenhalle. Statuetten und kunstvolle Blumentöpfe schmückten den mir völlig fremden Ort. Ich war allein und fühlte mich um zwei Jahrtausende in die Zeit zurückversetzt. Verwirrt erkundete ich die riesige Halle, die keinen Anfang und kein Ende zu haben schien. Wo war ich? Wo musste ich hin? Was war mein Ziel?
Ich konnte keine dieser Fragen beantworten. Immer schneller rannte ich von einer Säule zur Nächsten, versuchte zu entkommen, doch es gelang mir nicht. Verzweifelt wechselte ich die Richtung. Irgendetwas stimmte hier nicht. Jeder Raum musste irgendwo enden. Wenn nicht an einer Tür, dann zumindest an einer Wand. Doch ich fand keinen Anhaltspunkt. Die Statuen und Blumen wurden einander immer ähnlicher. Ich vermochte sie kaum noch zu unterscheiden.
Auf einmal ertönte ein heftiges Scheppern. Erschrocken öffnete ich die Augen und befand mich wieder im Zug. Ein junger Herr fuhr mit einem Servierwagen durch den Gang. Bei jedem seiner Schritte klirrte das Geschirr ohrenbetäubend laut.
“Möchtest du etwas?”, fragte mich Kyle, als der Servierwagen neben uns stehen blieb.
“Ein Wasser bitte”, verlangte ich, denn meine Kehle fühlte sich auf einmal schrecklich trocken an. Ich bezahlte und begann auch gleich zu trinken. Dabei geriet mein Albtraum allmählich in Vergessenheit.
“Alles gut?”, fragte mich Kyle lächelnd.
Ich nickte. “Hab nur schlecht geträumt.”
“Willst du darüber reden?”
“Ist nicht weiter wichtig. Habe ich lange geschlafen?”
“Maximal eine Stunde. Du hast aber nichts verpasst. Zug fahren ist wirklich langweilig.”
Ich schaute aus dem Fenster hinaus. Die Landschaft war eintönig. Nichts als Bäume und Sträucher konnte man sehen.
“Es gibt leider keinen Fernseher hier”, stellte ich fest.
“Und auch kein WLAN. Ich habe nicht einmal Empfang. Wie beschäftigen sich die Leute normalerweise auf Zugreisen?”
“Ich nehme meistens ein Buch mit. Wenn man liest, vergeht die Zeit wie im Fluge.”
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Seelenverwandt
RomanceZiellos! Nichts beschreibt mein Leben besser, als dieses eine Wort. Doch dann, in einem einzigen, winzigen Augenblick, begann sich die Welt um mich zu drehen und alles veränderte sich... Der 19 jährige Ayden stellt keine großen Erwartungen an das L...