Zug

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Wir warteten und warteten. Für zwanzig unerträglich lange Minuten blieben wir auf der Bank sitzen und schwitzen lautlos vor uns hin. Dann endlich ertönte die rettende Durchsage.

“Achtung auf Gleis 1. Eine Zugfahrt!”

Langsam erhoben wir uns von unseren billigen Plätzen und liefen ein paar Schritte Richtung Gleise, wobei wir natürlich den gebührenden Sicherheitsabstand einhielten. Der ICE bremste leise ab. Gleich darauf öffneten sich die Türen. Nur wenige Passagiere verließen den weißen Zug, sodass wir schnell einsteigen konnten. Ich ging voraus. Kyle folgte mir dicht auf den Fersen.

Die 2. Klasse war gut besetzt, doch in der 1. Klasse herrschte eine gähnende Leere. Wir hatten freie Platzwahl und nutzten dies auch aus. Suchend lief ich den breiten Gang entlang, bis ich ein großes Fenster entdeckt hatte, dass noch halbwegs sauber zu sein schien. Kyle ließ sich direkt neben mir nieder, nachdem er seinen Rucksack in der Gepäckablage verstaut hatte.

Nachdem sämtliche Türen wieder geschlossen worden waren, fuhr der Zug weiter. Für eine Weile schaute ich gedankenverloren zum Fenster hinaus. Die Häuser wurden immer kleiner und verschwanden schließlich ganz. Dafür erblickte ich kleine Seen, weite Felder und dunkle Nadelwälder. Unzählige Bäume rasten an meinem Fenster vorbei. Zumindest wirkte es so. In Wahrheit aber waren wir diejenigen, die in Höchstgeschwindigkeit durch die grüne Landschaft rasten.

“Jetzt beginnt hoffentlich der entspannende Teil der Reise”, wandte sich Kyle an mich.

“Wenigstens ist es hier drinnen wesentlich kühler."

“Und leiser”

“Das auch. Jetzt muss der Zug nur noch pünktlich ankommen", meinte ich und lehnte mich in den Sitz zurück.

“Das wird er wohl kaum, oder denkst du, er kann die Verspätung wieder einholen?”

“Unwahrscheinlich. Ich bin schon froh, wenn er vor Zwei unser Ziel erreicht.”

“Wann beginnt der Ball?”

“Einlass ist ab um Sieben, aber wir müssen nicht pünktlich sein. Eine Stunde später genügt auch.”

“Ich schätze, dass wird ein langer Tag werden.”

“Mit Sicherheit”, stimmte ich zu.

Ein Schaffner kam und überprüfte unsere Tickets. Keine zehn Minuten später erschien eine junge Frau mit einem Servierwagen.

“Möchtest du etwas trinken?”, fragte ich Kyle.

“Wasser genügt.”

“In Ordnung.”

Ich kaufte zwei maßlos überteuerte Wasserflaschen und dann zog die Frau auch schon weiter.

“Fährst du oft mit dem Zug?”

"Nein, nur ganz selten. Ich verreise im Allgemeinen nicht sehr viel.”

“Ich auch nicht. Im März habe ich für eine Woche meine Eltern besucht.”

“Wohnen die weit weg?”

“Etwa 200 Kilometer südlich von hier.”

“Hast du noch Geschwister?” Ich konnte es einfach nicht unterlassen, Kyle auszufragen. Netterweise antwortete er mir bereitwillig.

“Ich bin ein Einzelkind. Aber ich habe viele Cousinen und Cousins, da meine Mutter aus einer kinderreichen Familie stammt. Wir treffen uns einmal im Jahr an Weihnachten.”

“Das ist bestimmt schön.”

“Was macht ihr an den Festtagen?”

“Nicht viel. Wir essen gemeinsam, besuchen die Kirche, das Übliche halt. Mein Halbbruder Conor bringt meistens seine aktuelle Freundin mit und stellt sie uns vor.”

“Du hast einen Halbbruder?”

“Er ist der Sohn meines Vaters und elf Jahre älter als ich.”

“Wie ist es, mit einem großen Bruder aufzuwachsen?”

“Keine Ahnung. Er wurde auf ein Internat geschickt. Das war der Wunsch seiner Mutter. Ich habe ihn nur hin und wieder in den Ferien gesehen.”

“Und wo bist du zur Schule gegangen?”

“Nirgends. Ich hatte Privatlehrer.”

“Das klingt ein wenig einsam.”

“Ich habe mich daran gewöhnt”, entgegnete ich schulterzuckend. Dann kam unser Gespräch zum Erliegen.

Erstaunlicherweise machte der ICE gute Fahrt, sodass es zu keinen weiteren Verspätungen kam. Gegen Mittag suchten wir gemeinsam den Speisewagen auf. Ayden bestellte Currywurst mit Pommes, ich gab mich mit einem belegten Brötchen zufrieden. Wir aßen schweigend, bis sich ein fremder Passagier zu uns setzte. Offenbar wollte er ein wenig Gesellschaft und hatte uns dafür auserkoren.

“Kommen Sie von weit her?”, fragte er, während er genüsslich einen Teller Spaghetti Bolognese verspeiste.

“Aus dem Westen”, antwortete Kyle.

“Ich ebenfalls. Aus Luxemburg, um genau zu sein.”

“Dafür sprechen sie aber sehr gut deutsch.”

“Vielen Dank. Ich verbringe jeden Sommer in Deutschland. Mir gefällt es hier sehr gut. Jedes Jahr besuche ich eine andere Stadt, schaue mir die Burgen und Schlösser an, gehe wandern oder baden.”

“Das klingt großartig. Da haben sie sicherlich schon viel erlebt.”

“In der Tat. Und wohin führt euch die Reise?”

“Zu einer Wohltätigkeitsveranstaltung”

“Gemeinsam?” Der freundliche Mann blickte zwischen uns beiden hin und her.

“Aber sicher doch. Zu zweit macht es mehr Spaß.”

“Das ist wahr. Ich habe meinen Bruder schon oft gebeten, mich zu begleiten, doch er lehnt es ab.”

“Bedauerlich. Vielleicht ist ihm die Strecke zu weit.”

“Ich befürchte, er ist einfach kein Freund des Auslands. Dabei ist es hier so wunderschön.”

“Sicher gibt es in Luxemburg auch schöne Plätze.”

“Naturellement. Sehr viele sogar.” Der Mann blickte auf seine Armbanduhr. “Schon so spät", stellte er bestürzt fest und stand auf. "Ich würde mich liebend gerne weiter mit euch unterhalten, doch an der nächsten Haltestelle muss ich aussteigen. Au revoir.”

“Auf Wiedersehen”, verabschiedete ihn Kyle und winkte dem Mann zu. Dieser winkte kurz zurück und eilte dann davon.

“Bist du Fremden gegenüber immer so schweigsam”, wollte Kyle gleich darauf von mir erfahren.

“Meistens.”

“Heißt das, du wirst auf dem Ball auch keinen Ton sagen?”

“Schweigen ist Gold. Auf solchen Bällen gibt es viele Reporter. Da muss man jedes Wort mit Bedacht wählen", redete ich mich heraus.

“Dann sollte ich mich wohl besser zurückhalten.”

“Das musst du nicht. Sei einfach du selbst. Ich bin sicher, die Leute werden dich mögen.”

Kyle's Blick wurde erst. “Wir werden sehen… “

SeelenverwandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt