Stille

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Nach einem anstrengenden Vormittag sehnte ich mich förmlich nach Ruhe und Frieden. Es war laut in diesem Haus. Viel zu laut!

Meine Putzfrau Ella hatte sich heute nicht nur vorgenommen, die Treppe zu wischen, sie wollte auch sämtliche Zimmer reinigen. Das Röhren ihres Staubsaugers drang ohrenbetäubend laut durch das ganze Haus. Aber das war längst noch nicht alles. Babette probierte wieder einmal ein neues Rezept aus. Sie mixte, pürierte, klapperte mit dem Kochlöffel und trällerte einen Schlager nach dem anderen vor sich hin. Zur Krönung all dessen kam gegen zehn auch noch mein Gärtner auf mich zu und präsentierte mir voller Stolz seine neuesten Errungenschaften. Es waren lediglich einfache Zimmerpflanzen, doch er pries sie, als bestünden sie aus reinem Gold. Nachdem seine Lobpreisungen ein Ende gefunden hatten, begab er sich in den Garten und setzte die elektrische Heckenschere in Betrieb.

Der Krach dauerte mehrere Stunden an. Erst am späten Nachmittag beendeten meine Angestellten ihre Arbeiten und verließen mich wieder.

Ella machte zuerst Feierabend. Sie war eine schweigsame Frau und verlor auch bei ihrem Abschied nicht viele Worte. Sie winkte mir nur kurz zu und ging dann ihrer Wege.

Als nächstes folgte Joachim. Er war leider weit weniger schweigsam. Bevor er von dannen zog, erzählte er mir stets, was er getan hatte und was in den nächsten Tagen unbedingt getan werden müsste. Stets hielt er mich auf dem Laufenden und machte mir deutlich, wie viel Arbeit er trotz der bescheidenen Größe meines Gartens zu verrichten hatte. Ich wünschte ihm noch einen schönen Nachmittag, woraufhin er mich endlich verließ.

Gegen fünf wollte schließlich auch Babette heimgehen. Doch zuvor teilte sie mir eifrig mit: “Dein Abendessen steht im Kühlschrank. Ich habe Kartoffelsalat gemacht. Die Wiener sind in der grünen Box. Du kannst sie dir warm machen, wenn du möchtest.”

“Danke”, antwortete ich kurz und bündig und öffnete die Tür für sie. Doch so schnell ließ sie sich nicht vertreiben.

“Brauchst du sonst noch irgendetwas?”, fragte sie mich. “Verpflegung für die Fahrt vielleicht?”

“Nein, nicht nötig. Olga meinte, es gibt einen Speisewagen.”

“Ich könnte euch auch noch etwas zum Frühstück vorbereiten?”

“Du kannst ruhig heimgehen, Babette. Genieße deinen freien Tag.”

“Das werde ich. Wir sehen uns dann am Mittwoch.”

“Es könnte aber ziemlich spät werden”, warf ich ein. “Du musst nicht unbedingt auf uns warten.”

“Oh doch, das werde ich! Als würde ich mir das entgehen lassen. Ich möchte deinen geheimnisvollen Freund unbedingt mit eigenen Augen sehen.”

Genau das hatte ich befürchtet. Auf Kyle und mir kam in den nächsten Tagen einiges zu. Ich hoffte, dass er gut damit umgehen konnte, denn ich konnte es definitiv nicht. Ich wusste nicht einmal, wie ich den morgigen Tag heil überstehen sollte. Auf eine weitere Begegnung mit Olga konnte ich momentan wirklich verzichten.

Ihre Worte hatten mich wütend gemacht. Sie kannte Kyle nicht, hatte ihn noch nie getroffen und redete dennoch schlecht über ihn. Dabei war er ein herzensguter Mensch. Er hatte es nicht verdient, so herablassend behandelt zu werden. Niemals hatte er irgendetwas von mir verlangt. Er nutze mich nicht aus! Wir verstanden uns einfach nur gut. Sehr gut sogar!

Warum musste Olga immer gleich nach dem Negativen suchen? Nicht alles hatte eine Schattenseite und nicht jeder verbarg ein dunkles Geheimnis. Kyle war wie ein helles Licht. Er leuchtete von innen heraus. Wann immer er mir nahe war, fühlte ich mich fröhlich. So fröhlich wie noch nie zuvor in meinem Leben.

Als ich wieder alleine war, schrieb ich Kyle eine kurze Nachricht und teilte ihm darin mit, dass unser Zug voraussichtlich morgen früh um neun kam. Eine Antwort erhielt ich nicht, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Sicherlich hatte er noch viel zu tun.

Kurz darauf begab ich mich in den Hobbykeller. Ich genoss die Ruhe ungemein. Endlich war niemand mehr da, der den Mixer betätigte, den Staubsauger auf höchster Stufe stellte oder ununterbrochen auf mich einredete. Stattdessen empfing mich eine herrliche Stille.

Ich warf ein paar Pfeile auf die Dartscheibe, war allerdings nicht sehr erfolgreich darin. Mein niedriger Punktestand bewies, dass ich alles andere als gut zielte. Letzten Endes gab ich das Spiel vorzeitig auf und ging stattdessen in den Garten.

Die Sonne sank bereits tiefer. Es war nicht mehr ganz so hell wie zuvor. Ein weißer Schmetterling flatterte über die Wiese hinweg, während ich langsam den Steinweg entlang ging und tief durchatmete. Ein Auto fuhr vorüber und scheuchte ein paar Vögel auf. Hektisch breiteten sie ihre Flügel aus und erhoben sich in die Lüfte. Keine zwei Minuten später kam dasselbe Auto zurück. Sicher ein Fremder, der sich verfahren hatte, dachte ich bei mir.

Eine Zeit lang lauschte ich dem sanften Zirpen der Grillen und genoss, wie mir der kühle Wind durch das Haar wehte. Irgendwann wurde mir allerdings langweilig. Außerdem bekam ich allmählich Hunger.

Ich drehte mich um und ging Richtung Haus zurück. Gerade als ich die Tür öffnen und hineingehen wollte, vernahm ich das Brausen eines Motors. Kurz darauf ertönte ein lautes Hupen hinter mir. Verwundert drehte ich mich um.

Auf der Straße stand ein pechschwarzes Motorrad. “Überraschung!”, rief der Fahrer und nahm den Helm ab.

Es war Kyle!

Sofort rannte ich auf ihn zu. “Du bist schon zurück?”, fragte ich ihn und klang dabei vermutlich mehr als nur begeistert.

“Ich habe alles erledigt”, entgegnete Kyle und deutete dabei auf seinen Rucksack. “Ich dachte, es wäre schöner, wenn wir morgen früh gemeinsam zum Bahnhof gehen. Von hier aus ist es ja nicht sonderlich weit.”

“Liebend gerne”, stimmte ich augenblicklich zu. Wer hätte gedacht, dass dieser Tag noch eine so schöne Wendung nehmen würde?

SeelenverwandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt