Größe

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Nach zehn sehr langen Minuten, in denen ich Kyle aus dem Weg gegangen war, klopfte es endlich an der Tür. Die junge Dame vom Zimmerservice stellte Kuchen und Kaffee auf den großen Esstisch ab. Alsdann übergab sie mir die Einladungen für den Wohltätigkeitsball, wünschte einen guten Appetit und verschwand wieder.

Während ich noch überlegte, ob ich Kyle zum Essen rufen sollte, kam er auch schon an, setzte sich hin und betrachtete den Kuchen. “Das ist aber eine kleine Portion", stellte er argwöhnisch fest.

“Es kommt nicht auf die Größe an”, entgegnete ich und ließ mich ebenfalls auf einem der gepolsterten Stühle nieder.

“Wenn man voll werden will, schon.” Aus einem mir unerfindlichen Grund fing Kyle auf einmal an zu lachen.

In Hotels wie diesem servierte man lieber sieben kleine Gänge als nur einen Einzigen. Offenbar war Kyle diese Tatsache nicht bewusst. “Es geht einzig und allein um den Genuss", versuchte ich ihm zu erklären. "Aber wenn es nicht reicht, kann ich noch etwas nachbestellen. Wobei ich sicher bin, dass es beim Wohltätigkeitsball mehr als genug Speisen zur Auswahl gibt.”

Kyle lachte noch immer. Ich schaute ihn verständnislos an, denn sein Verhalten erschien mir gerade mehr als rätselhaft. War ihm die Reise nicht bekommen? Oder vertrug er den Luxus nicht?

“Entschuldigung”, sagte er, nachdem er sich endlich wieder beruhigt hatte. “Meine Fantasie ging gerade ein wenig mit mir durch.”

“Deine Fantasie über Kuchen?”

“So ähnlich. Lass uns essen. Mal sehen, wie viel Genuss diese Größe bringt.” Erneut musste Kyle auflachen, versuchte es aber zu unterdrücken.

Ich verstand beim besten Willen nicht, was er an dem Kuchen so komisch fand. Schweigend begann ich zu essen. Es schmeckte sehr gut, doch kam bei Weitem nicht an Babette's Zupfkuchen heran. Dieser war nämlich einmalig.

Kyle lobte den Kaffee, der wirklich ausgezeichnet war. Dennoch verzichteten wir beide auf eine zweite Tasse. Nach dem Essen hatten wir noch sehr viel Zeit. Meine Stylistin würde mir meinen Anzug nicht vor Fünf bringen. Es blieben uns also noch mehr als zwei Stunden, bevor es anstrengend werden würde.

“Möchtest du irgendetwas machen?”, fragte ich Kyle nach seinen Wünschen.

“Du meinst, außer heute Abend den Whirlpool ausprobieren?”

Ich nickte. Natürlich hätten wir den Jacuzzi auch sofort austesten können, doch vermutlich hätte ich dann gar keine Lust mehr auf den Ball gehabt. Im Grunde genommen, hatte ich das jetzt schon nicht. Lieber wäre ich noch drei Runden mit der Limo durch die Stadt gefahren.

“Was hältst du davon, wenn wir uns noch ein Stündchen hinlegen?”, schlug Kyle vor. Du meintest doch, dass der Abend noch lang werden könnte, nicht wahr?”

Ich hielt das für eine gute Idee und so gingen wir wieder zurück ins Schlafzimmer.

“Wenigstens haben sie nicht an der Größe des Bettes gespart”, bemerkte Kyle und machte es sich gemütlich.

Ich war darüber ebenso erfreut wie er. Allerdings wären in meiner derzeitigen Gefühlslage zwei Betten angebracht gewesen. Oder besser gleich zwei Zimmer. Auf unterschiedlichen Etagen!

Ich wollte möglichst viel Abstand zwischen mir und Kyle bringen, doch das ging nicht, weil er genau in der Mitte lag. Wohl oder übel musste ich mich dicht neben ihm legen. Vorzugsweise, ohne ihn bewusst oder unbewusst zu berühren. Zumindest war dieses Unterfangen von Erfolg gekrönt. Anfangs...

“Ich hätte auch gerne so ein Bett”, schwärmte Kyle.

“Dann brauchst du eine größere Wohnung.”

“Oder ich entferne einfach alle Zwischenwände.”

“Darfst du das?”

Kyle blickte zu mir. “Natürlich nicht!”

Wieder einmal strich er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Warum tat er das ständig? Er hatte doch von uns beiden die chaotischere Frisur.

“Kannst du nach dem starken Kaffee überhaupt schlafen?”, fragte ich, nur um mich irgendwie von seiner Nähe abzulenken.

“Sollte ich nicht einschlafen können, trägt definitiv nicht der Kaffee die Schuld daran.”

“Ich kann die Vorhänge auch schließen”, bot ich an, denn es war sehr hell in dem Raum. Nicht jeder konnte bei Licht einschlafen.

“Lass sie lieber offen. Das ist sicherer.”

Während ich an die Decke starrte, grübelte ich darüber nach, wie offene Vorhänge sicherer sein konnten, als Geschlossene. Ich kam zu keinem Ergebnis. Allerdings spürte ich allmählich die Müdigkeit in mir aufkommen. Ich schloss die Augen und drehte mich auf die Seite. Das Letzte, was ich spürte, war eine Hand, die an Meine stieß. Dann schlief ich ein.

SeelenverwandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt