Kapitel 31

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„Ich habe wieder von dem Keller geträumt", warf ich mit gedämpfter Stimme ein.
„Was haben Sie genau geträumt?" Die Therapeutin blickte mich aufmerksam an. So wie immer. Ich ließ den Blick durch das Fenster schweifen. Eine riesige Baumkrone war zu sehen.
Das warme Grün der Blätter hatte etwas Beruhigendes an sich. Leider wurde ihr Rascheln ebenso wie das Zwitschern der beiden kleinen Vögel, die auf einem Ast hockten, durch das verschlossene Fenster ausgesperrt. Wie immer hatte meine Therapeutin dieses vor unserer Sitzung geschlossen. Schade, ich mochte die frühsommerlichen Geräusche von draußen. Zumindest hielt das Glas nicht die Sonne ab. Das Therapiezimmer war durchflutet von goldenem Licht. Selbst in meiner Wohnung war es nie so hell und warm wie hier.
„Es war sehr diffus", beantwortete ich die Frage der Therapeutin.
„Versuchen Sie, es ruhig in Worte zu fassen."
Ich seufzte. Das Problem, das wir seit zwei Monaten, seit ich mit der Therapie begonnen hatte, immer wieder hatten.
Krampfhaft versuchte ich nicht abzuschweifen und mich dem zu widmen, was mich bedrückte.
„Ich saß dort unten und es wurde immer dunkler. Die Tür war bereits abgeschlossen und ich hatte nach dem Handy gesucht, was ... egal, jedenfalls hatte ich es nicht gefunden. Und ich hatte furchtbare Angst. Vor allem weil in der Ecke ein Mann stand." Meine Stimme stockte.
Unruhig knetete ich meine Hände. Selbst mein Herzschlag hatte während meiner Erzählungen beschleunigt.
„Wissen Sie, wer dieser Mann war?"
„Ich denke, es war mein Großvater ..." Ich schüttelte den Kopf. Eigentlich wollte ich ihn nicht mehr so nennen. „Herr Delorean. Ich habe ihn um Hilfe gebeten und geschrien, aber es kam kein Ton aus meinem Mund heraus. Wobei es ohnehin egal war, er hätte sowieso nichts gemacht."
Die Therapeutin nickte. „Und dann sind Sie aufgewacht?"
„Ja, schweißgebadet", antwortete ich begleitet von einem unsicheren Lachen.
„Was ist Ihnen in dem Moment durch den Kopf gegangen?"
„Zuerst war ich total panisch. Aber als ich gemerkt hatte, dass es nicht real war und nur ein Traum, war ich erleichtert." Ich überlegte. „Vielleicht auch etwas einsam ..."
„Wieso einsam?"
„Ich weiß nicht", gab ich ratlos zurück.
Meine Therapeutin setzte ein mildes Lächeln auf. „Lassen Sie sich ruhig Zeit."
Ich grübelte. „Vielleicht ist es, weil mir Caleb ... mein Expartner fehlt."
„Sie haben sich damals von ihm getrennt?"
Ich schüttelte den Kopf, nur um dann zu nicken und anschließend hin und her zu wiegen. „Getrennt hat er sich, aber ich habe ihm auch allen Grund dazu gegeben." Sofort bohrte sich das schlechte Gewissen durch jede Faser meines Körpers. Mit unwohlem Gefühl erinnerte ich mich an unser Gespräch damals. Damals ... über ein Jahr war es schon her. Er war so sauer und verletzt und ...
„Wir haben bisher nicht über ihn gesprochen. Wollen Sie ein wenig über ihn reden?"
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht ..." Da wurde es mir klar. „Nein, ich möchte nicht über ihn reden."
„Warum nicht?"
Es brach mir das Herz, als ich die nächsten Worte aussprach: „Weil er für mich nicht mehr so wichtig ist. Oder es vielleicht auch nie richtig war ..." Kummervoll starrte ich in meinen Schoß.
„Okay", sprach die Therapeutin. „Wer sind denn die Menschen, die Ihnen aktuell wichtig sind?"
„Meine Freundinnen", schoss es aus mir heraus. „Mei und Banu. Dann habe ich auch eine neue Freundin im Spanischkurs gefunden und eine Kollegin auf der Arbeit, die vor ein paar Jahren aus Mexiko hierhin gezogen ist und immer verzweifelt, wenn ich mit ihr versuche, auf ihrer, auf unserer Muttersprache zu reden. Und mit meiner Chefin Gina verstehe ich mich aktuell auch ganz gut." Sie hatte es sogar geschafft – obwohl ich mit dem Studium erst begonnen hatte – meine Beförderung durchzudrücken. Ich war ihr unendlich dankbar, insbesondere dafür, dass der Arbeitsaufwand sich nicht wie befürchtet verdoppelt hatte.
„Und trotzdem fühlen Sie sich manchmal einsam?"
Ich nickte. „Ja, abends. Aber vielleicht ist es auch nur eine alte Gewohnheit. Ich habe nie allein gewohnt. Damals war meine Familie ... also in dem Haus, in dem ich damals gelebt habe, war immer jemand da. Dann habe ich bei Mei, dann in einer WG und dann mit Caleb zusammengewohnt."
„Also fühlen Sie sich einsam, seitdem Sie allein wohnen?"
Ich spitzte die Lippen. „Ich denke." Doch mit einem Mal wurde mulmig zumute. „Wobei nein, eigentlich erst seit ein, zwei Wochen. Glaube ich ..."
„Glauben Sie? Ist vor ein oder zwei Wochen etwas passiert, dass sie sich plötzlich einsam fühlen?"
Eigentlich hatte ich sie nicht zeigen wollen, aber dennoch hatte ich sie mitgebracht.
Angespannt zog ich meine Tasche näher und wühlte in den Tiefen, bis ich fündig wurde.
Mit verkrampften Fingern legte ich die Einladung auf das kleine gläserne Beistelltischchen zwischen der Therapeutin und mir.
Einladung zur Hochzeitszeremonie
Lilia & Kieran
Als ich es las, wurde mir augenblicklich schlecht.
Die Therapeutin wusste sofort, um wen es ging. Auch wenn es nur ein paar Stunden waren, die wir bisher hatten, waren wir bereits tiefer in meine Vergangenheit getaucht, als ich es all die Jahre davor jemals selbst getan hatte.
„Ich verstehe", antwortete sie, nachdem sie mit dem Lesen fertig war. „Was haben Sie gefühlt, als Sie die Karte erhalten habe?"
„Scham", schoss es ungefiltert aus mir heraus.
„Weil Sie Ihrer Freundin die Wahrheit damals nicht erzählt haben?"
Ich nickte. „Aber auch weil ich es überhaupt getan habe. Und ..."
„Und?"
„Weil ich für einen kurzen Moment. Und es war wirklich nur ein kurzer Moment", beteuerte ich. „Ein Stück eifersüchtig war, als ich die Karte bekommen habe. Aber wirklich nur ganz kurz."
Die Therapeutin strich ihre Hose glatt. „Sie müssen sich hier nicht schämen, darüber zu sprechen. Ist es, weil Sie Kieran noch lieben?"
Die Direktheit der Frage überrumpelte mich.
Ich schluckte und wandte mich. „Ich ... nein, ich denke nicht." Dann zögerte ich.
„Ich weiß nicht", gab ich unsicher zurück. „Das wäre auch total dumm und falsch", scherzte ich.
„Wieso dumm und falsch?" Die Therapeutin neigte ihren Kopf.
„Na, die beiden heiraten. Es wäre eh zu spät. Deshalb ist es dumm und falsch."
„Hm, das finde ich überhaupt nicht. Es ist sogar sehr menschlich. Sie beide, Kieran und Sie, standen sich immer sehr nahe und es ist meistens nicht so einfach möglich, Gefühle einfach abzustellen."
„Es muss aber sein", wiederholte ich.
„Sagt wer?"
„Alle."
„Wer sind alle?"
„Ich weiß nicht. Aber es darf nicht sein. Er heiratet sie und damit ist die Entscheidung gefallen."
Die Therapeutin schaute flüchtig zu Boden. Verdammt. Das tat sie immer, wenn ich mauerte. Ich konnte mich nicht erwehren, ein schlechtes Gewissen zu bekommen, und das Gefühl nicht abschütteln, jemanden enttäuscht zu haben. Sie enttäuscht zu haben. Wieso war es nur immer so?
„Wollen Sie zur Hochzeit hingehen?", schlug die Therapeutin einen anderen Weg ein.
Ich schüttelte vehement den Kopf. „Das wäre Wahnsinn und total dreist."
„Aber?"
Doppelt Verdammt. Sie kannte mich bereits jetzt zu gut.
„Ich hatte gehofft, dass es vielleicht helfen könnte, damit abzuschließen. Also wenn ich sehe, wie die beiden heiraten. Dann weiß ich, dass es vorbei ist."
„Wissen Sie das nicht jetzt schon?"
„Anscheinend nicht." Wieder erklang mein nervöses Lachen.
„Wollen Sie ihn zurückgewinnen?"
„O Gott, nein", erwiderte ich rasch. „Es ist gut, dass wir getrennt sind. Wirklich. Es war einfach zu verkorkst. Aber wie Sie sagten, ein Part von mir hängt manchmal noch sehr an damals ... an ihm."
„Hm", machte die Therapeutin. „Denken Sie, es könnte Sie vielleicht auch zurückwerfen, wenn Sie zur Hochzeit gehen?"
„Vielleicht", murmelte ich. „Und es wäre wahrscheinlich falsch. Nachdem was damals passiert ist."
„Ich denke, wir sollten das Ganze vielleicht noch einmal in der nächsten Stunde etwas genauer erörtern. Wir würden Sie sich damit fühlen?"
Ich nickte. „In Ordnung. Ich muss mich ja auch nicht sofort entscheiden."
„Das ist gut. Sie haben eine sehr belastende Vergangenheit und natürlich ist es gut, sich dem zu stellen. Allerdings kann es manchmal auch hilfreich sein, gewisse Auslöser für eine Zeit zu vermeiden. Gerade wenn man das Gefühl hat, bestimmte Ereignisse und Traumata noch nicht richtig verarbeitet zu haben."
Ich stimmte zu. Es klang bestechend logisch.
Auch als ich vor der Praxis stand, klang es absolut sinnvoll. Ich zückte mein Handy und schaltete den Flugmodus ab.
Zwei Nachrichten ploppten auf dem Display auf.
Mei: So meine Lieben. Ich habe es mal wieder geschafft, meinen lieben Erzeugern ein bisschen Flüssiges aus den Rippen zu leiern. Also Business Tickets zur Hochzeit gehen auf meinen Nacken. Acht Uhr morgens Schampus in der Flughafen-Lounge ist doch akzeptiert, oder?
Banu: So früh schon? Kannst du nicht nachmittags buchen oder so? Aber ja, wenn's auf deinen Nacken geht, will ich mich auch nicht beschweren, liebste Sugarmommy!
Die Worte meiner Therapeutin hatten so bestechend logisch geklungen. Aber wenn mein Gehirn eins in letzter Zeit, in dem letzten Jahr und vielleicht auch schon immer, nicht auf die Kette bekam, war es bestechende Logik.
Ich: Klar, am Flughafen ist alles erlaubt. Freu mich und ebenfalls lieben Dank, Sugarmommy!
Auch wenn ich aktuell über eigenes Geld verfügte, mir ein Ticket zu holen, sollte es so nicht immer bleiben. Einen Teil würde ich für meine Zukunftspläne behalten, aber den Rest hatte ich bereits begonnen zu spenden. Es war unverdientes Geld. Ein angehäuftes Vermögen, für das niemand etwas getan hatte. Ich ebenfalls nicht. Daher sollte es lieber dahin fließen, wo es mehr gebraucht wurde. Dahin, wo es ungerechtfertigterweise zu wenig gab.

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