Kapitel 30

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„Danke, dass du so spontan konntest", murmelte ich verbunden.
„Ich muss mich bedanken. So hatte ich einen Grund, dem fürchterlichen Familiendinner zu entkommen." Banu zog an ihrem Joint, während wir auf einer Bank gegenüber von einem Irish Pub saßen.
„Fürchterlich, weil du dir mitten zwischen der Vorspeise und dem Hauptgang einen Joint gedreht hast?", neckte ich.
Banu grinste und hielt mir diesen entgegen. „Ich habe bis zur Nachspeise gewartet."
Ich nahm ihr den glühenden Stängel ab und zog vorsichtig dran. Ein leises Husten entfuhr mir, das sich jedoch schnell wieder legte.
Ein Stück entspannter beobachtete ich die gegenüberliegende Szenerie. Ein betrunkener Mann stolperte aus dem Pub nach draußen. Mit lautem Schluckauf und wackeligen Beinen ließ er sich in einen Uber plumpsen. Eine seiner Vorgängerinnen hatte dies trotz wahrscheinlich gleichem Pegel und dafür höheren Schuhen deutlich galanter bewerkstelligt.
Der Weg nach Hause war der einzige Grund, weshalb die Personen einen Fuß vor den Pub setzten. Der Rest hielt sich aufgrund der eisigen Kälte drinnen auf. Ich zog meinen Mantel enger und musterte das grelle Licht der Straßenlaterne, das sich in den Pfützen zwischen Straße und Bordstein widerspiegelte. Wenigstens regnete es nicht mehr.
Auch wenn mir kalt war und die Nässe der Bank sich langsam den Weg durch die Lagen Stoff bahnte, zogen mich keine zehn Pferde ins Lokal. Zu voll und zu laut.
Allerdings wollte ich auch nicht irgendwo auf einer Bank in ... der Dunkelheit sitzen. Schnell schob ich den Gedanken weg.
„Also das Pärchen-Dinner heute Abend war scheiße?" Banu schaute mich ernst an.
Ich nickte.
„Ich rate mal ins Blaue und tippe darauf, dass dein Mann und Lilia nicht die Ursache dafür waren."
„Wie kommst du darauf?", hakte ich ironisch nach und gab ihr den Joint zurück.
„Anekdotische Evidenz."
Ich musste schmunzeln. „Ich weiß, du kannst Kieran nicht leiden."
„Was heißt nicht leiden. Auf der Beerdigung fand ich ihn halbwegs passabel." Banu zog an dem Joint. „Ich fand's ziemlich scheiße, dass du damals nach seinen Partys immer hinter ihm herräumen musstet. Und auch teilweise die Leute, die er da so angeschleppt hat. Aber ja, war wohl eine Reaktion auf die Schwierigkeiten bei euch zuhause. Und man hat ja gemerkt, dass er wohl doch mehr Probleme zu haben schien als auf den ersten Blick sichtbar."
„Wie meinst du das?", fragte ich neugierig.
Banu kratzte sich am Kopf. „Ich weiß nicht, wie ich es genau sagen soll. Aber es wirkte immer so ... immer so, als ob er auf der Kippe steht ..."
„Auf der Kippe wozu?"
Banu sah mich nachdenklich an. „Zu springen."
Meine Augen wurden groß und die Erinnerung, wie er sich samt dem Haus in Brandt setzen wollte, kehrte zurück. Er hatte sterben wollen. Und sie hatte es gesehen.
„Du bist sehr aufmerksam", raunte ich.
„Ja, und das wird mir auch immer öfter zum Verhängnis. Das und dass ich manchmal meinen Mund nicht halten kann und in letzter Zeit ein paar unliebsame Wahrheiten ausspreche." Banu schnalzte mit der Zunge.
„Inwiefern?"
Banu blickte mich schief an. „Zum Beispiel über den Verlobten meiner lieben Zwillingsschwester."
„Was ist mit ihm?", fragte ich verblüfft.
„Pff, der betrügt sie doch am laufenden Band. Jede Dienstreise ist doch halber Bumsurlaub für ihn."
Geschockt sah ich sie an. „Woher weißt du das?"
„Eigentlich weiß das so ziemlich jeder, nur sie will es nicht sehen, sondern nur den perfekten, hübschen Modeltypen mit der Erfolgskarriere aus gutem Haus."
„Und das hast du ihr gesagt?" Angespannt massierte ich mir die Stirn.
Banu lachte hohl und reichte mir den Joint. „Klar, du kennst mich. Seitdem herrscht Schweigen. Wobei nein. Auf der Beerdigung hat sie tatsächlich kurz mit mir gesprochen. Banu, das gehört sich nicht in einer Kirche."
„Das tut mir leid", nuschelte ich und nahm einen Zug.
„Dir muss nicht immer alles leidtun." Sie zwinkerte mir zu. „Halima lebt halt in ihrer eigenen Welt."
Mein Blick folgte dem Rauch und schweifte in die Ferne.
„Wie ihr beiden damals ..."
Überrascht sah ich sie an. „Wie wer?"
„Kieran und du."
Sofort zog sich mein Magen zusammen. „Was meinst du damit?"
„Ach komm, ihr hattet doch was am Laufen. Früher und heute wahrscheinlich auch."
Am Laufen ... Banu hatte so eine schrecklich direkte Art, die Dinge zu formulieren.
„War es so offensichtlich?" Nervös kratzte ich mich am Kopf.
„Geht. Aber als du damals mit rot verschmiertem Mund auf der Party im Garten rumgelaufen bist, habe ich etwas erahnt. Da waren immer diese Kleinigkeiten. Ein zu langer oder zu versunkener Blick."
„Wieso hast du nichts gesagt?"
„Du hättest es mir schon gesagt, wenn du drüber hättest sprechen wollen."
„So wie du?" Ich reichte ihr den Joint zurück.
Banu zog die Augenbrauen zusammen.
Ich presste kurz die Lippen aufeinander. „Willst du es deiner Familie irgendwann sagen?"
Ein hämisches Seufzen entfuhr ihr. „Die haben schon einen halben Herzinfarkt bekommen, als ich vorehelich ausgezogen bin. Wahrscheinlich wird es ein ganzer, wenn sie im Falle einer Hochzeit eine Person vor dem Altar sehen, die das gleiche Geschlecht hat wie ich."
Ich schluckte. Vorsichtig umgriff ich ihre Hand und drückte sie.
Einen Moment verharrten wir.
„Es ist halt, wie es ist ...", erwiderte Banu leichthin, wobei die Schwere in ihren Worten kaum zu überhören war.
Ich lehnte mich gegen die Bank und ein Stück zu ihr. „Ich weiß nicht, wie deine Eltern reagieren werden. Natürlich hoffe ich, dass sie es mit viel Verständnis aufnehmen und dich unterstützen. Aber auch wenn das nicht so sein sollte, möchte ich, dass du weißt, dass wir immer für dich da sind. Egal, wie schwer es wird – du bist nicht allein, und wir schaffen das zusammen."
Banu nickte gequält. Ich wusste, dass sie emotionale Konversationen hasste.
„Familie ist einfach ein Mist", murmelte ich.
„Wohl wahr."
Eine Weile blieben wir still nebeneinandersitzen.
„Meine Mutter wurde vergewaltigt", sprach ich die Worte, die sich noch immer hohl und abstrakt anfühlten, in die kalte Luft.
Banus Mund zuckte. Zeigte sie normalerweise kaum Regung, war dies schon fast ein Ausbruch.
Dennoch schwieg sie.
„Von meinem ... Erzeuger", wisperte ich weiter.
Banu drückte den Joint aus und wandte sich mir zu. „Fuck Mari, das tut mir unendlich leid für sie. Und für dich natürlich auch."
„Ich habe es heute erfahren. Kieran hat mir die Gerichtsakte vor die Nase geknallt." Ich kaute auf der Innenseite meiner Wangen. „Und wir haben miteinander geschlafen. Vor zwei Tagen." Ein leises, hysterisches Lachen entfleuchte mir. Es war zu absurd. Jetzt wo ich es aussprach, erkannte ich, wie verkorkst alles war.
„Du solltest mit jemandem darüber reden", sagte Banu.
„Tu ich doch mit dir", gab ich zurück.
„Ja, aber mit jemandem, der dir da wirklich helfen und nicht nur zuhören kann."
Ich nickte. „Wenn ich zurück in Seattle bin, möchte ich mir eine Therapeutin suchen."
„Das heißt, du trittst das Erbe an?"
Verwundert sah ich sie an.
„Therapie ist sehr teuer", erklärte Banu.
Ich rieb meine Lippen aufeinander. „Ja, wahrscheinlich hast du Recht. Auch wenn ich eigentlich nichts von Großvater haben will."
„Du hast ein Anrecht darauf." Banu lehnte sich wieder zurück. „Schadenersatz."
Ich lächelte matt.
„Vielleicht", sprach ich leise und seufzte. „Es wird Zeit aufzuräumen, wenn ich wieder heim bin."
„Deinem Mann die Wahrheit sagen?"
Ich nickte erneut. „Ja, ich muss langsam ein paar Dinge in den Griff bekommen." Mein Blick wanderte zu dem Asphalt auf dem Boden. „Ich habe ihn so verletzt und er weiß es noch nicht einmal. Wie konnte ich alles nur so kaputt machen? Das haben er und Lilia nicht verdient." Mein Brustkorb schnürte sich zu.
Banu seufzte. „Was heißt schon verdient ... ja, du hast Scheiße gebaut. Ja, dir ist Scheiße widerfahren. Ist das eine Entschuldigung? Wahrscheinlich nicht. Aber manchmal geht alles schief und man baut Scheiße. Wichtig ist, dass man die Konsequenzen zieht und sich der Scheiße stellt."
„Ziemlich viel Scheiße ..."
„Da hilft nur die Wahrheit aussprechen."
Ernst sah ich Banu an. „Gilt das auch für dich?"
Sie zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht können wir eine Vereinbarung für unsere Zeit hier treffen. Ich werde meine Dinge klären und du offenbarst deiner Familie, wie du empfindest."
Mit einem Schmunzeln entzog Banu ihre Hand meiner. „So funktioniert das nicht."
Schuldbewusst blickte ich sie an. „Tut mir leid, ich wollte nicht unsensibel sein."
„Alles gut." Banu starrte auf den Pub, dessen Tür kurz aufgeschwungen, dann aber schnell wieder zugeknallt worden war – ohne dass jemand rausgekommen war.
„Irgendwann kommt die Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen", sprach sie. „Aber das bestimme ich."
Ich zog erneut meinen Mantel enger und griff nach meinem Handy. Banu hatte Recht. Irgendwann kam die Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen, und ich hatte schon viel zu lange gewartet.
Mit schwerem Herzen öffnete ich den Chat mit Caleb und ließ meine Finger über die Tastatur wandern.
Ich: Wir müssen reden.

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