Rache Teil 1

329 67 43
                                    

Tränen quollen wie ein Wasserfall aus ihren Augen. Die Reizungen durch das Salz der Tränen ließen sie aufschwellen und rötlich werden. Sie musste eine Weile geweint haben. Ihre tief grünen Augen hatten völlig ihre sonst so herzliche Ausstrahlung verloren. Die Wimperntusche verlief über ihre zärtlichen, hellen Wangen. Sie bildete den Verlauf ihrer Tränen ab. Sina hatte noch nicht ihre orangebraunen Locken gekämmt, für die ich sie immer so beneidete. Ihre Haltung war gebeugt und ihre Hände umgaben ihr Gesicht, um ihre Tränen vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Es musste etwas Schreckliches passiert sein, ansonsten wäre sie niemals in einem solchen Zustand aus dem Haus gegangen.

Ohne Vorwarnung schmiss sie sich um meinen Hals und fing noch lauter an zu schluchzen. Ich kam ins Schwanken und konnte mich gerade vor einem Sturz retten.

„Was ist mit dir los?", fragte ich sie, während ich besorgt auf sie hinunter schaute. Doch bevor sie antworten konnte, zog ich sie ins Haus und schloss die Tür.

„Mein Freund...", begann sie ihren Satz, wobei ihre Stimme versagte und noch ein paar Tränen über ihre Wangen kullerten.

„Er...er...hat sich von mir getrennt.", brachte sie schluchzend hervor und starrte mit leerem Blick auf den Boden.

Ihr Freund Carlo, der mit neunzehn zwei Jahre älter war als Sina, gehörte zu den angesagten Kerlen aus unserer Oberstufe. Seiner muskulösen Statur, seinen schönen tief braunen Augen und seiner dunkelbraunen Mähne verdankte er, dass er zudem einer der Gutaussehenden war. Der Ruf des Mädchenschwarms Nummer eins begleitete ihn dadurch an unserer Schule. Sein Charakter erwies sich jedoch als ungeheuerlich. Aus diesem Grund werde ich wohl nie verstehen, warum Sina mit ihm zusammengekommen war.

Trotzdem hatte ihre Beziehung immerhin schon knapp ein Jahr gehalten. Für Carlo wahrscheinlich die längste Partnerschaft, die er jemals geführt hatte. Diese schien mit der Nachricht nun auch Geschichte zu sein. Dabei waren sie gestern Abend noch so glücklich gewesen. Für mich wäre diese Trennung kein großes Problem gewesen, da ich Carlos nicht sonderlich leiden konnte. Außerdem merkte ich, dass er einen schlechten Einfluss auf Sina gehabt hatte. Mit ihm verbrachte sie überlange Nächte in irgendwelchen Clubs, was ihre Noten noch schlechter ausfallen ließ, als sowieso. Alles nicht so wild, wäre nicht gerade ihre Versetzung aus genau diesem Grund gefährdet. Ein Schultag ohne meine beste Freundin im Unterricht würde ich nicht überleben.

Zudem hatte Sina schon einige Beziehungen und auch deren Ende erfolgreich überstanden. Dabei durchlief ihre Gefühlswelt während der Phase gerade nach der Beziehung relativ ähnliche Höhen und Tiefen. Aus diesem Grund gab es für diese Phase sogar schon einen eigenen Namen. Wir nannten sie BSLT oder auch ‚beautiful single life time', um nur die positiven Eigenschaften hervorzuheben. Die Phase begann immer mit einem unendlich lange wirkenden Tief, während dem sie stundenlang weinte und sich nach den alten Zeiten zurücksehnte. Woraufhin sie sich einredete, dass er sie gar nicht verdient hatte und dass andere Väter auch noch geile Söhne hatten. Während dieser Zeit schien es, als hätte sich ihre Laune wieder verbessert. Doch dieser Eindruck täuschte, denn diese Stimmung wandelte sich oftmals unerwartet in Wut. Während der sie nach Schuldigen für das Ende ihrer Beziehung suchte und somit wieder den alten Zeiten nachtrauerte. Schließlich folgte das letzte Hoch und damit das Ende dieser Phase, während der sie keinen Gedanken mehr an die ehemalige Partnerschaft verschwendete. Wenn sie dann wieder anfing, nach einem neuen Abenteuer zu suchen, war alles überstanden und meine alte Sina wieder vollkommen hergestellt.

Diese BSLT-Phase dauerte einige Tage und könnte somit unseren unbeschwerten Urlaub gefährden oder zumindest die ersten paar Tage. Ich musste mir also etwas einfallen lassen, damit sie den größtmöglichen Kummer zu Hause lassen konnte.

„Was ist denn passiert? Wann hat er Schluss gemacht?" fragte ich schockiert.

„Dieses Schwein. Er war sogar zu feige, um mir dabei heute Morgen in die Augen zu schauen, geschweige denn mit mir zu sprechen.", platzte es aus ihr heraus. Sie schrie mich aufgewühlt vor Wut an.

„Entschuldigung, dass ich so laut geworden bin.", fügte sie nach ihrem Ausraster hinzu, woraufhin sie verstummte.

Mittlerweile hatten wir auf unserer Couch im Wohnzimmer Platz genommen.

„Das verstehe ich nicht. Wie hat er denn Schluss gemacht?"

„Über WhatsApp. Hallo? Wie feige ist das denn?", fragte sie außer sich, fuchtelte hektisch mit den Händen vor sich und wischte sich schließlich die Tränen auf ihrer Wange mit dem Handrücken ab. Ich musste sie irgendwie beruhigen.

„Über WhattsApp?" fragte ich voller Entsetzen. Bevor sie antworten konnte, huschte ich schnell in die Küche, um ihr eine Packung Taschentücher zu holen.

„Ja. Unglaublich! Hat der einen Knall?", fragte sie mich, wobei sie mit ihren Händen wie ein Scheibenwischer vor ihrem Gesicht herumwedelte. Ich nickte und hörte ihr weiterhin aufmerksam zu. „Natürlich hatte ich ihn direkt angerufen, mit der Hoffnung, es sei ein riesiges Missverständnis gewesen. Er bestätigte die Wahrheit der Nachricht jedoch mit einer eiskalten und ignoranten Stimme, die ich noch nie zuvor von ihm gehört hatte. Ich erkundigte mich nach dem Grund." Sie schluchzte. „ Frischfleisch, das war es, was er wollte. Eine andere. Er bräuchte etwas Neues. Was ist das für ein Grund?" Leblos starrte sie vor sich her, gehäuft kullerten Tränen über ihre Wangen.

Ich persönlich hatte diese kalte Art von Carlo schon früh genug kennen gelernt. So hatte er sich mir gegenüber oft genug sehr abweisend verhalten. Dennoch wunderte ich mich, dass Sina diese Seite von ihm noch gar nicht bemerkt hatte.

„Ist der blöd? Wie kann der dich mit Fleisch vergleichen? Wenn dies seine Art ist, dann würde ich sagen, dass ihm gerade das beste Stück entgangen ist.",äußerte ich. Für einen kurzen Augenblick zuckten ihre Mundwinkel zu einem Lächeln. Es freute mich, dass ich sie zum Schmunzeln gebracht hatte. Vielleicht konnte ich es doch noch schaffen, sie vor unserem Urlaub wieder auf Vordermann zu bringen.

„Ich finde es nur total Scheiße von ihm. Dabei lief unsere Beziehung gerade so gut. Wir hatten keine Probleme. Dann solch ein Ende.", beschwerte sich Sina.

„Und was mache ich? Ich heule ihm auch noch nach! Seine Aussage ist so erniedrigend." Weitere Tränen überströmten ihr Gesicht.

„Sina Unruh! Du bist eine sehr starke und selbstständige Frau. Du brauchst ihn doch gar nicht, um glücklich zu sein. Du hast doch noch mich. Ich werde dafür sorgen, dass du morgen gar nicht mehr wissen wirst, wer Carlo überhaupt war."

Sina gab mir keine Antwort, sondern starrte weiterhin vor sich her.

„Hoffentlich fällt keine andere auf ihn herein.", flüstere ich vor mir her. Eine Aussage, die sie nicht ignorieren konnte.

„Erde an Amelie? Er ist der begehrteste Typ an unserer Schule. Es würde mich nicht wundern, wenn er schon wieder eine neue Flamme am Start hat. Oder vielleicht hatte er schon die ganze Zeit eine."

Sie hatte schon einmal die Vermutung geäußert, dass er sie betrügen würde, aber keine ausreichenden Hinweise gefunden. Wieder kullerte eine Träne über ihre Wange. Sie wischte sie schnell mit einem Taschentuch weg, welches sie in ihrer Aufregung ganz auseinandergerupft hatte, und nahm sich ein neues. Ihr Anblick bedrückte mich als ihre beste Freundin sehr. Man musste schon Einiges anstellen, um sie so sehr zu verletzen.

„Carlo handelt zwar in vielen Situationen nicht immer korrekt, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er während eurer Beziehung Etwas mit einem anderen Mädchen angefangen hat."

Obwohl ich es Carlo zutrauen würde, wollte ich nicht noch mehr Salz in die Wunde von Sina streuen.

„Wir sollten uns an ihm rächen.", überlegte ich laut und ohne darüber nachzudenken.




Die KristallwächterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt