Dinner Teil 2

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Amelie

Mein Vater lehnte sich grimmig blickend an einen Kleiderständer und checkte wie ein Jäger auf der Hut die gesamte Gegend ab, um bei jeder winzigen Unstimmigkeit einschreiten zu können. Es hatte eine halbe Ewigkeit und die Überredenskünste von Sina gebraucht, um einen Shoppingtrip einzurichten. Mein Vater hatte grummelnd zugestimmt unter einer Bedingung: Er würde uns keinen einzigen Moment aus den Augen lassen. Damit waren wir einverstanden und gerade mir verlieh es genügend Mut, um mich aufs Shoppen in dieser modischen Boutique nahe der Strandpromenade einzulassen. Im Hintergrund hörte ich dumpf ein eingeschaltetes Radio, welches hinter der Kasse stand.
"Was hälst du von diesem Kleid oder diesem oder diesem?" Sina war beim Shoppen ganz in ihrem Element und schnappte die perfekte Kleiderauswahl mit gezieltem Blick nacheinander aus den verschiedensten Kleiderständern, während sie rücklings durch die von Kleiderständern eingekesselte Reihe ging und mir ein Kleid nach dem anderen präsentierte. Das eine Sommerkleid war schöner als das andere. Einfarbig, geblümt, gemustert oder kunterbunt, es war wirklich für jeden Geschmack etwas dabei. Doch keins hatte mich vollkommen überzeugt, als Sina das Ende der Reihe erreicht hatte und mit mindestens zehn Kleidern beladen war. Ich hatte irgendwann aufgehört zu zählen.
"Nichts dabei gewesen?", fragte mich Sina enttäuscht darüber, dass sie ihrer Aufgabe als Shoppingberatung nicht gerecht geworden ist. Sie hatte diesen das-ist-das-perfekte-Kleid-Blick vergebens in meinem Gesicht gesucht. Sina kannte mich dank der jahrelangen Shoppingbegleitung gut genug, um zu wissen, dass ich jedes einzelne Kleid anprobieren könnte und obwohl es mir augenscheinlich perfekt passte, ablehnen würde. Allein nur aus dem Grund, weil ich dieses gewisse positive Gefühl beim ersten Blick auf das Kleidungsstück verspüren musste, um mich dafür zu entscheiden. Ich konnte mir das selbst nicht erklären.
Ich hatte mich noch gar nicht umgeschaut, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, Sina zu folgen. Deshalb machte ich mich nun selbst konzentriert auf den Weg durch die Kleiderständerreihe. Für mich war das alles auf den ersten Blick ein Haufen bunter Stoff, bei dem ich kaum den Schnitt erkennen konnte, weil die Kleider zwar locker nebeneinander hingen, aber dennoch zu wenig Platz ließen, um ein Gesamtbild zu erhalten. Es erstaunte mich umso mehr, dass bei Sina jeder Griff nach einem Kleid ein Erfolg gewesen ist, auch wenn ich nicht dieses spezielle Gefühl verspürt hatte.
Ein kleiner roter Stoffausschnitt blitzte auf einmal aus der Menge an Kleidern hervor und erweckte mein Interesse. Zielstrebig ging ich darauf zu und als ich es in meinen Händen hielt, entfaltete sich ein atemberaubender Anblick, der dieses unbeschreiblich positive Gefühl in mir auslöste, dass ein aufregendes Gribbeln in meinem Bauch verursachte und mein Herz schneller schlagen ließ. Ein breites Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus.
"Das ist es!", sagte ich entschlossen und hielt es vor meinen Körper, um Sina einen ersten Blick auf meine Auswahl zu geben.
"Da ist auch dieser verträumte Ausdruck in deinem Gesicht, als hätte dich dieses Kleid sofort auf Wolke sieben katapultiert."
Sie kam direkt auf mich zu und musterte mich von Kopf bis Fuß, fühlte den Stoff des Kleides mit ihren Fingern und verkündete ihr Urteil: "Schick, schick. Das rot steht dir wirklich gut, auch wenn der Schnitt eher aus dem letzten Jahr ist." Sina kannte sich natürlich perfekt in Sachen Mode aus, was sie in solchen Situationen gerne präsentierte.
"Deine Meinung ist positiv genug, um das Kleid in die engere Auswahl aufzunehmen." Sina verdrehte die Augen und lachte:
"Als hättest du das nicht sowieso schon längst gemacht. Lass uns zu den Umkleiden gehen. Ich habe genügend Kleider für dich und mich ausgesucht. Vielleicht kann ich dich doch noch von einem moderneren überzeugen." Sie zwinkerte mir zu und steuerte zielstrebig auf die beiden nebeneinanderliegenden, freien Kabinen zu.
Sina zu liebe probierte ich zunächst ein knielanges, weißes Kleid an, welches mit realen Blumenaufdrücken verziert war. Den Abschluss des Unterteils bildete ein breiter, orangener Streifen. Im Armbereich besaß es kurze Ärmel wie bei einem T-Shirt und der Bund reichte nah bis an meinen Hals, so dass mein Dekolte vollkommen bedeckt wurde. Es schmiegte sich zart und passgenau an meinen Körper.
"Bist du bereit?", fragte Sina und im Klang ihrer Stimme spiegelte sich ihr breites Lächeln wider.
"Ich kann es kaum erwarten." Sinas Freude steckte mich an, so dass ich am liebsten direkt zu ihr gestürmt wäre, um noch mehr von ihrer positiven Aura in den Bann gezogen zu werden.
"Bei drei kommen wir beide aus der Kabine. Eins, zwei, drei." Schon standen wir uns freudestrahlend gegenüber und überwarfen uns mit Komplimenten. Sie trug ein knöchellanges rosefarbenes Kleid, welches ihre Beine zart umspielte und ihr üppiges Dekolte betonte.
"Cheese.", kündigte Sina die Selfisession vor dem Spiegel an und ich konnte gerade noch eine Grimasse hervorbringen, um eine lustige Erinnerung an diesen Shoppingtrip zu bewahren. Ich schielte mit weit aufgerissenen Augen auf meine Nase und formte mit meinen Lippen einen übertriebenen Kussmund. Sina ließ ihrem Lachflash beim Anblick der Bilder freien Lauf. Ich genoss die unbeschwerte Zeit mit ihr und vergaß beinahe meinen Vater, der weiterhin auf seiner Position verharrte.
"Wie gefällt es dir?", fragte mich Sina.
"Gut, gut." Ich nickte übertrieben, während ich mich im Spiegel betrachtete.
"Nur gut, gut? Du siehst bezaubernd aus." Dabei nahm Sina meine beiden Hände und schwung sie leicht. Sie betrachtete mich kritisch.
"Dieses gewisse Gefühl hat gefehlt.", sagten wir fast im Kanon, weil Sina diese Standardantwort mittlerweile kannte.
"Probieren wir das nächste Kleid an?", fragte Sina verständnisvoll.
Der Kleiderstapel in der Umkleide schrumpfte immer weiter, während wir uns in die verschiedensten Farben und Schnitte hüllten. Die Zeit verging wie im Flug.
Mein ausgewähltes rotes Kleid hing als letztes vor mir an der Wand. Ich streifte es behutsam von dem Kleiderhaken ab. Der weiche Stoff glitt wie von selbst über meine Kurven.
"Das ist es.", rief ich vor Freude und sprang aus der Kabine. Dieser Satz ließ selbst meinen Vater aufmerksam werden. Während Sina mich kritisch begutachte, starrte mich mein Vater überrascht an.
"Was sagt ihr?", drängte ich sie dazu, endlich etwas zu sagen. Ich wollte nicht mehr länger auf eine Antwort warten. Gespannt stellte ich mich auf meine Zehenspitzen und presste meine Fingerspitzen an meine Lippen. Mein Vater räusperte sich mehrmals, bis er schließlich die passenden Worte gefunden hatte.
"Mein kleiner Engel ist zu einer attraktiven Frau herangewachsen." Er zeigte verstohlen einen Daumen nach oben, als wäre ihm diese Erkenntnis peinlich.
"Ich stimme ihm vollkommen zu. Das Kleid bringt deine weiblichen Züge perfekt zur Geltung. Das ist mega sexy. Wirklich spitze!" Sie formte mit ihrem rechten Zeigefinger und Daumen ein ok-Zeichen.
"Danke." Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte meinen Körper und ich löste meine angespannte Körperhaltung.
"Dann haben wir unsere Auswahl getroffen. Ich habe mich für das rose farbene Kleid, welches ich als erstes anprobiert hatte, entschieden.", schlussfolgerte Sina. Woraufhin wir meinem Vater bis hin zur Kasse folgten. Sina stupste mit ihrem Ellenbogen zart in meine Seite, so dass ich aufzuckte, und flüsterte mir ins Ohr: "Damit wirst du Bastian garantiert um den Finger wickeln." Das Treffen mit ihm hatte ich schon fast wieder vergessen. Es war sicherlich schon mindestens 15 Uhr, also blieb uns gar nicht mehr so viel Zeit. Diese Tatsache versetzte mich ungewollt in eine innerliche Unruhe, die ich gar nicht mochte. Dieses Treffen beeinflusste meine Gefühlslage mehr als mir lieb war.

Die KristallwächterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt