Mondschein Teil 1

55 14 35
                                    


Amelie

Ich umklammerte den Zettel von Bastian so fest in meiner Faust, so dass es schon fast anfing zu schmerzen. Ich wollte diese Botschaft von ihm auf keinen Fall verlieren. Das hätte mir einen noch größeren seelischen Schaden hinzugefügt, weshalb ich diesen Schmerz in meiner Hand gerne in Kauf nahm. Bastian leitete uns den gesamten Weg zurück zu unserem Treffpunkt ohne auf einen großen Wortwechsel zu bestehen. Mein Vater folgte ihm auf Schritt und Tritt, wonach Sina und ich nebeneinander kamen.
Was war so wichtig, dass er es mir mit einem kleinen zusammengefalteten Zettel mitteilen musste? Hatte er mir erste Antworten geliefert oder stellte dieser Brief einen endgültigen Abschied dar? Möglicherweise offenbarte er mir, wie sehr er unsere Begegnungen genossen hatte und dass ich ihm für immer in Erinnerung bleiben würde.
Meine Neugierde zu erfahren, was Bastian mir noch unbedingt erzählen wollte, stieg ins Unerträgliche, je näher wir uns dem endgültigen Verabschiedungspunkt am Strand näherten. Es war mittlerweile so dunkel geworden, so dass ich den Schein der Laternen abwarten musste, um etwas lesen zu können. Ich faltete das Papier unauffällig mit meinen nervös zitternden Händen auf. Zunächst wollte ich nicht, dass Sina etwas mitbekam, damit sie keine aufdringlichen Fragen stellte, die die Aufmerksamkeit meines Vaters wecken könnten. Deshalb ließ ich meinen Blick immer nur kurz auf meine Hände schweifen. Ich konnte das Wort -Treffen- erkennen, was mein Herz höher schlagen ließ. Er wollte sich mit mir treffen, das reichte mir fürs Erste, weshalb ich den Zettel zusammenknüllte und darauf wartete, dass ich ihn in Ruhe durchlesen konnte.
"Wieso grinst du so?", fragte mich meine Freundin, die direkt mitbekommen hatte, dass sich meine innere Stimmungslage nach außen projiziert hatte.
"Ich fand den Abend einfach so schön."
"Und ich dachte schon, dass du Bastians Arsch entdeckt hast. Der ist richtig knackig. Das kommt in dieser Anzughose sehr authentisch rüber. Ich liebe diesen Anblick. Wie lange er dafür wohl trainieren musste?", witzelte Sina. Mein Blick wanderte automatisch zu dem beschriebenen Objekt und ich musste Sina definitiv zustimmen. Bei jedem Schritt strammte die Anzugshose und ließ seinen Hintern durchscheinen.
"Sina!", ermahnte ich meine Freundin, als ich meine Gedanken wieder gesammelt hatte.
"Deine Reaktion hat aber ganz schön lange auf sich warten lassen." Ich verdrehte meine Augen. Was sollte ich auch darauf antworten? Der restliche Weg verlief sehr ruhig, die Stimmung war immer noch von der vorherigen Nachricht überschattet.
"Noch ein letztes Mal vielen Dank für die Einladung und einen schönen Abend." Das waren die vorerst letzten Worte, die ich von ihm hörte. Nachdem mein Vater ihm nochmals dankend auf die Schulter geklopft und sich gebührend verabschiedet hatte, wendeten sich Sina und Frank bereits ab, um den Weg zum Hotel anzutreten. Zu meinem Bedauern existierte zwischen Bastian und mir ein Abstand von mindestens vier Schritten, so dass ich Bastian zum Abschied verstohlen winkte und mit meinen Lippen ein lautloses - Wir sehen uns - formte. Bastians Mundwinkel formten sofort ein Lächeln, als er realisierte, was ich gesagt hatte. Ich hatte ihn erneut zum Lächeln gebracht, was mir zusätzlich ein gutes Gefühl gab. Er hob ebenfalls seine Hand, winkte mir leicht zu, bevor er sich durch seine perfekt gestylten Haare strich, sich umdrehte und im Getümmel des Abends verschwand. 
"Amelie, wo bleibst du denn?" Ich hatte keine Chance zu antworten, denn Sina hatte bereits mein Handgelenk gegriffen und riss mich mit sich mit.
"Ich bin so froh, wenn wir wieder im Hotel sind. Meine Füße haben sich endlich Flip Flops verdient." Erst als Sina ihre schmerzenden Füße erwähnte, fiel mir auch dieser drückende Schmerz in meinen Füßen  auf, den ich dank Bastian vorher ausblenden konnte.
"Bastian scheint ein ganz ordentlicher Typ zu sein. Ich meine mal ganz davon abgesehen, dass er dich gerettet hat, wofür ich ihm unendlich dankbar bin.", meldete sich Frank, der seinen Gang verlangsamte, um neben uns hergehen zu können. Ein wohliges Gefühl umschloss mein Herz. Es fühlte sich gut an, wenn der eigene Vater positiv von meinem heimlichen... Wie sollte ich meine Empfindungen für ihn nur in Worte fassen? Schwarm war definitiv eine Untertreibung. Ich musste mir selbst eingestehen, dass sich jede einzelne meiner Fasern zu ihm hingezogen fühlte. Er beförderte mich mit seinen meeresblauen Augen jedes Mal aufs Neue in seinen Bann, während dem die Zeit stehen zu scheinen blieb und in dem ich mich gerne verlor. Ich war über beide Ohren in ihn verliebt. In Bastian, über den ich kaum etwas wusste, der für mich ein Mysterium darstellte, welches liebenswert und gefährlich zugleich war. Das er gefährlich war, hatte er während dem ersten Überfall bewiesen, bei dem er gleichgültig ein anderes Wesen getötet hatte. Diese Ereignisse durften auf keinen Fall in Vergessenheit geraten, vor allem nicht, wenn ich ihn für eine Verabschiedung ein letztes Mal wiedertreffen sollte.

Als wir im Hotelzimmer angekommen waren, schlüpften Sina und ich direkt aus unseren Pumps.
"Das ist ein so gutes Gefühl.", sprach Sina das aus, was wir uns beide dachten. Frank setzte sich mit einem kühlen Getränk an den Tisch, während ich so schnell wie möglich in unser Schlafzimmer trat, um endlich die vollständige Nachricht von Bastian lesen zu können.
Auf dem leicht bläulich schimmernden Briefpapierausschnitt schwangen sich fein säuberlich mit Füller geschriebene Schreibschriftbuchstaben.

Wenn du es einrichten kannst, dann würde ich dich gerne noch heute Abend am Strand vor eurem Hotel treffen. Ich werde dort sein.

Dein Bastian

Es klang zwar vermutlich albern, aber mein Herz schlug sofort schneller, als ich -Dein- las. War ihm bewusst, was er mit diesen wenigen Worten bei mir auslöste? Ein Gefühlschaos breitete sich in mir aus. Die Vernunft redete mir ein, dass ein Treffen alleine mit ihm ein zu großes Risiko barg, während mein Herz mir sagte, dass ich ihm für meine Rettung mehr als nur ein einfaches Treffen schuldig war.
Eins stand jedoch fest: Ich benötigte Sinas Hilfe.

Die KristallwächterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt