Entführung Teil 9

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Amelie

Ich könnte schwören, dass mein Herzschlag für einen kurzen Moment aussetzte, als Bastian aus unserem Schlafzimmer hervortrat und sich vor die Balkontür stellte. Sein Körper war immer noch mit dem vom Kampf gezeichneten Anzug bekleidet. Er hatte sich wohl direkt auf den Weg zu unserem Hotelzimmer begeben.

"Was ... Wie ... Du ...", stotterte ich sinnlos vor mir her.

Bastian übernahm das Wort, so dass ich meine Gedanken sammeln konnte.
"Ich verstehe, wenn du sauer auf mich bist und gerne für immer auf mich verzichtet hättest. Es war auch nicht meine Absicht, so zeitnah bei dir aufzutauchen. Aber ich kann dich beruhigen, weil ich nicht lange hier sein werde. Ein Zwischenfall zwingt mich dazu, persönlich mit dir zu sprechen."

"Wie bist du in unser Hotelzimmer gelangt?" Ich lehnte immer noch mit dem Rücken an der Eingangstür, von der ich mich langsam abstieß, um mich Bastian zu nähern. Eine Armlänge vor ihm blieb ich stehen. Dieser Abstand tat gut und er akzeptierte ihn.

"Wenn mich diese Holztür aufhalten würde, dann wäre ich wohl kaum ein guter Krieger. Es war auch ein Kinderspiel mich an euch in der Hotellobby vorbeizuschleichen. Ihr ward beide sehr in euer Gespräch vertieft." Bastian belächelte meine Frage zunächst, bevor sich sein Gesichtsausdruck an den Gedankengängen eines kriegerischen Bastians anpasste. Der Ausdruck wurde stumpf und gefühlslos zugleich wie bei einem Befehlshaber, der seine Aufträge ohne Rücksicht auf Verluste delegierte.

"Welchen Vorfall meinst du?" Genau in dem Moment, als ich die Frage ausgesprochen hatte, zählte ich eins und eins zusammen. Könnte es möglich sein, dass meine missglückte Entführung und Sinas Verschwinden zusammenhängen? Hat Sina meinen Platz eingenommen? Wurde sie an meiner Stelle entführt?

"Sina..." Bastian musste nur ihren Namen aussprechen, um mich in meiner Vermutung zu bestätigen.

"Nein, nein, nein. Das kann nicht sein, nicht Sina. Bist du dir da zu hundert Prozent sicher?" Eine Gedankenflut stürmte auf mich ein, die ich nicht mehr kontrollieren konnte. Tränen quillten in meinen Augen hervor, so dass sich meine Sicht trübte. Mir wurde allein durch den Gedanken an diese Wesen übel. Ein Ohnmachtsgefühl überkam mich, während meine Welt für mich zusammenbrach, als sich diese unaussprechliche Frage in meine Gedanken schlich: "Würde ich Sina jemals wieder sehen?"

Bastian schwieg und ließ mir Zeit, meine Gefühlswelt unter Kontrolle zu bringen. Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich versteinert. Ihn beschäftigte die Situation so sehr wie mich, nur aus einem anderen Grund. Er hatte in seinen Augen versagt, weil er uns nicht beide beschützen konnte.

"Meine Leute haben es mir sofort berichtet, nachdem ich dich zum Hotel geleitet hatte. Sie haben mich in der Seitengasse neben dem Hotel abgefangen. Einer der Tachytita hat sie sich während der Flucht geschnappt, als sie auf der Promenade unterwegs war. Er wurde dem Namen seines Stammes gerecht, so konnten ihn meine Leute nicht mehr einholen."

"Wie konnte das nur passieren?"

"Sie war alleine unterwegs. Das war ihr größter Fehler."

"Der größte Fehler bei der gesamten Aktion war das Treffen mit dir. Wieso war ich nicht einfach bei Sina im Hotelzimmer geblieben? Dann wäre sie niemals aus dem Hotel gegangen." Ich merkte erst viel zu spät, dass selbst ein Bastian in wenigen Momenten Gefühle besaß, die mit den falschen Aussagen verletzt werden könnten. Genau dieser Moment stellte sich gerade ein.

"Ich würde nicht sagen, dass das Treffen ein Fehler war. Der Zeitpunkt war nur taktisch unklug gewählt." Seine Stimme klang gefasst. Doch seine Anstrengungen, diesen Schein aufrecht zu erhalten, waren deutlich spürbar.

"Wo ist Sina in diesem Augenblick?"

"Das Volk der Tachytita und Dynami hat sie mitgenommen."

"Mitgenommen? Mitgenommen in ihr Reich inmitten der Weltmeere?"

Bastian nickte verstohlen. "Die Visionen meiner Leute haben alle das Gleiche gezeigt: Eine unter Wasser gefangene Sina."

"Das überlebt sie doch niemals."
Allein der Gedanke daran, dass sie eine Gefangene dieser unheimlichen Wesen war, bereitete mir Magenkrämpfe. Unter Wasser war jeder Funke Hoffnung vergebens, bei einer günstigen Gelegenheit fliehen zu können. Spätestens bei ihrem ersten Fluchtversuch würden sie Sina ertrinken lassen.

"Wir besitzen verschiedene Möglichkeiten, um euch Menschen unter Wasser am Leben zu erhalten."
Die Menschheit hat über die Jahrtausende selbst Erfindungen hervorgebracht, die einen Aufenthalt zur Erkundung der Weltmeere bis zu einem gewissen Grad zulassen. Mir fielen Taucheranzüge und Sauerstoffflaschen als eine der vielen Optionen ein.

"Wieso wurde sie entführt? Besitzt Sina ebenso besondere Fähigkeiten?" Sie war meine beste Freundin. Es würde mich kaum wundern, wenn sie selbst nichts davon wusste.

"Wir glauben nicht. Doch wir arbeiten daran, den Grund herauszufinden. Wir vermuten, dass sie Sina entführt haben, um dich zu schwächen und leichter an dich heranzukommen."

"Was macht dich da so sicher?"

"Sie fehlte in meiner Vision. Nur du warst darin aufgetaucht."

"Was hat das zu bedeuten?"

"Diese Wesen hatten von Anfang an nur dich im Visir. Weshalb nur du gefährdet warst. Sina war nur ein Ausweichplan."

"Ein Ausweichplan, weil mich diese Ungeheuer nicht erwischt haben. Du hättest sie nicht aufhalten dürfen." Tränen bahnten sich unaufhörlich einen Weg über meine Wangen, allein bei dem Gedanken an die Qualen, die Sina durchstehen musste. Das hatte sie nicht verdient. Ich verlor zunehmend die Kontrolle über den Fluss aus Tränen, der still dahin floss.

"Hörst du dir selber zu? Du redest wirres Zeug. Glaubst du wirklich die Situation wäre besser, wenn du in ihren Fängen gelandet wärst."

"Sina ist die Unschuldige."

"Du auch." Er hatte recht, womit ich die Diskussion über irgendwelche sinnlosen Eventualitäten beendete, die nichts an der Situation verbessert hätten.

"Warum konntet ihr das mithilfe eurer Fähigkeiten nicht verhindern?"

"Das habe ich dir schon mal erklärt. Es ist anstrengend, sich auf ein zukünftiges Ereignis zu konzentrieren, so dass eine passable Vision daraus entsteht. Außerdem muss man gut trainiert sein, um mit unseren Fähigkeiten umgehen zu können, so dass auch spontane Planänderungen erkannt werden können. Unsere Fähigkeiten sind nicht vollkommen wie vielleicht bei den meisten Superhelden aus irgendwelchen Comics. Sie können aber wie die Körper von Sportlern bis zu einem gewissen Grad an Perfektion geformt oder die Denkweise von Wissenschaftler aufgebaut werden."

"Wie sieht euer Plan zur Befreiung von Sina aus?" Bastian wich meinem Blick aus und drehte sich seitlich von mir weg.
"Das habt ihr doch vor?", fragte ich mit Nachdruck.

"Wir werden uns nach unserem Gespräch darüber beraten..."

"Ich komme mit.", unterbrach ich Bastian sofort.

"Das ist keine gute Idee."

"Ihr entscheidet über das Leben meiner besten Freundin, Sina. Ich besitze das Recht, dabei zu sein. Wieso sollte es also keine gute Idee sein?"

"Das Thema, sowie unsere Chancen müssen sachlich betrachtet und bewertet werden. Du wirst es auf die emotionale Ebene ziehen."

Ich schluckte schwer. Wie konnte er nur eine sachliche Betrachtungsweise vorziehen, wenn es um ein Menschenleben ging?

"Dann ist es umso wichtiger, dass ich zur Betrachtung dieser Ebene dabei bin. Außerdem begebe ich mich doch mit jeder Sekunde, die ich außer Sichtweite von euch bin, in Gefahr. Diese Monster werden wohl nicht aufgeben, bis sie mich endlich gefangen haben, falls ich das bin, was sie wirklich wollen."

Die KristallwächterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt