Abschied Teil 1

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Amelie



Der Strudel hatte mich wieder zurück in die Realität und damit auf die sehr weiche Matratze des Hotelzimmers befördert. Wie sollte ich Bastian nur aus meinen Gedanken verbannen, wenn er mich nun auch schon in meinen Träumen verfolgte?

Nachdem ich wieder eingeschlafen war, konnte ich ohne Probleme bis zum nächsten Morgen durchschlafen, an dem wir ausgiebig frühstückten, bevor wir zur Polizeiwache gingen. Dort schilderte ich die gleichen Beobachtungen, die ich sowohl Sina als auch meinem Vater erzählt hatte. Sie nahmen die Strafanzeige gegen Unbekannt dankend entgegen, woraufhin wir den Tag hauptsächlich in der Hotelanlage verbrachten, um uns noch ein wenig auszuruhen. Erst gegen Abend machten wir uns auf den Weg zu einem ganz besonderen Ort wie mein Vater zu sagen pflegte.

"Wir sind angekommen.", verkündete Frank andächtig und zeigte auf einen mittlerweile fast menschenleeren Strand. In seiner Hand hielt er einen Strauß von 23 roten Rosen, die er am Nachmittag bei einem Blumenhändler gekauft hatte. Die Rosen bewegten sich, weil mein Vater vor Aufregung in der Hand zitterte. Sein nervöser umherschweifender Blick war ein Anzeichen für seine innerliche Anspannung, die auch das restliche Gesicht widerspiegelte. Er selbst trug ein weißes kurzärmliges Hemd und eine schwarze Anzughose, die er hochgekrempelt hatte, damit sie nicht zu sehr von dem Sand verunreinigt wurde. Sina und ich hatten weiße Blusen angezogen. Doch während Sina sich für einen langen schwarzen Rock entschieden hatte, hatte ich lieber eine schwarze enganliegende Dreiviertelhose bevorzugt. Die untergehende Sonne brachte das Meer zum Glitzern. Es sah so unglaublich friedlich aus wie es in sachten Wellen an den Strand schlug. Mein Vater begleitete uns bis ans Wasser. Dort stellten wir uns nebeneinander auf mit mir in der Mitte.

"An diesem Ort ist es geschehen. Hier hat meine Frau und deine Mutter ihre letzten Minuten mit uns verbracht. Dieses Meer hat sie uns für immer geraubt. Wir sind gekommen, um uns endlich angemessen zu verabschieden von unserer geliebten Anastasia."

Natürlich hatte es damals in unserem Dorf eine große Trauerfeier und eine Scheinbeerdigung ohne Leichnam gegeben, aber Frank wollte bei seiner letzten Verabschiedung so nah wie möglich bei ihr sein, weshalb er sich für den Ort ihres Todes entschieden hatte. Seine wenigen Worte gingen mir unter die Haut und verursachten eine Gänsehaut. Ich nahm die Hand meines Vaters und drückte sie fest. Er schaute zu mir und ich nickte ihm aufbauend zu, woraufhin er fortfuhr:

"Der amerikanische Schriftsteller Thornton Wilder hat einmal gesagt:

Da ist ein Land der Lebenden und da ist ein Land der Toten; als Brücke dazwischen ist unsere Liebe.

Da ist ein Land der Lebenden, in dem wir noch verweilen und das du vor dreizehn Jahren durch einen tragischen Unfall verlassen hast. Bis zu diesem Zeitpunkt haben wir dieses Land mit dir erlebt. Manche von uns durften dich leider nur für einen kurzen Zeitraum begleiten"

Dabei drückte er meine Hand fester.

"Ich zähle mich zu den Glücklichen, der dich zehn Jahre lang kennen und lieben lernen durfte mit all deinen Ecken und Kanten. Ich danke dir für die vielen schönen gemeinsamen Momente im >Land der Lebenden<. Gerade in den letzten Tagen sind viele dieser Erinnerungen mit der Planung des Urlaubs und der Verabschiedung von dir wieder wach geworden. Ich erinnere mich an unseren ersten Kuss als wäre es gestern gewesen. Jeder Gedanke an ihn weckt dieses wohlig warme Gefühl in mir. Dabei verzeihe ich dir auch, dass du mich an unserem ersten Date versetzt hattest, weil du den Geburtstag deiner Großmutter ganz vergessen hattest. Den Tag, an dem wir den Bund der Ehe eingegangen sind, wird auch für alle Zeit in meinen Gedanken verankert sein. Du sahst in deinem Brautkleid so umwerfend schön aus." Eine Träne kullerte über seine Wangen. Er räusperte sich und setzte seine einstudiert wirkende Rede fort: „Ich danke dir für den wohl schönsten Augenblick in unserem Leben, für das größte Geschenk, dass du mir in meinem Leben machen konntest, für unsere gemeinsame Tochter Amelie. Du wärst sicherlich stolz auf sie, wenn du sie neben mir stehen sehen könntest. Mittlerweile ist sie schon zu einer jungen Frau herangewachsen. Dabei hat sie ihre natürliche Schönheit definitiv von dir geerbt."

Er gab ein Laut von sich, den ich als ein trauriges Lachen wahrnahm, und schüttelte den Kopf.

"Was würde ich nicht alles dafür geben noch einen Tag in meinem Leben mit dir zu verbringen. Ich würde mein letztes Hemd dafür geben, wenn du jetzt einfach aus dem Meer steigen würdest, um mir noch eine letzte Umarmung zu gewähren."

So offen hatte ich meinen Vater selten über meine Mutter reden gehört. In gewisser Weise machte es meine Mutter für einen kurzen Augenblick wieder lebendig, weil er diese Rede an sie gerichtet hatte. Ich stellte mir vor wie sie Frank so gespannt wie ich lauschte. Sie bei der Erinnerung an den ersten Kuss anfing zu lächeln, weil es auch in ihr dieses Kribbeln auslöste. Diese liebevollen Worte und meine Vorstellung an sie ließen Tränen in meine Augen steigen. Doch ich versuchte sie zu unterdrücken, um meinen Vater nicht abzulenken, damit er diese wundervolle Rede zu Ende halten konnte und endlich Frieden fand.

"Ich werde mich für immer an all die glücklichen Stunden mit dir in unserer Mitte erinnern, an die Freude und die Ausgelassenheit, die du immer ausgestrahlt hattest, an Feste und Feierlichkeiten mit dir, und einfach an alle lustigen gemeinsamen Erlebnisse; doch da sind auch Erinnerungen an schwierigere Stunden in unserem Leben. Ich weiß, dass du es nicht immer leicht mit mir gehabt hattest. Dafür möchte ich mich zutiefst bei dir entschuldigen. Nicht selten musstest du gegen einen großen Dickkopf ankämpfen, den du oftmals erfolgreich besiegen konntest. Im Nachhinein war dein Weg auch meistens der richtige gewesen. Du hast nie aufgegeben und immer an uns geglaubt. Danke. Unvergesslich wird mir dabei dein süßer Hundeblick bleiben, mit dem du mich immer wieder aufs Neue erweichen lassen hast."

Ein Moment der Stille begann. Wir schauten gemeinsam aufs Meer, so dass die bisher gesagten Worte auf uns wirken konnten. Die Sonne verschwand langsam hinter dem Horizont, was in der Situation eine gewisse Ruhe vermittelte.



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