Meer Teil 4

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Amelie

Gerade als Bastian seinen Mund öffnete, um etwas zu sagen, vernahm ich von Weitem die aufgelöste Stimme meines Vaters, die immer deutlicher und lauter wurde. Ich wendete meinen Blick von Bastian ab und erkannte wie mein Vater auf mich zugerannt kam. Wir waren nur noch wenige Meter von dem Strandabschnitt, an dem ich ins Meer getreten war, entfernt. Der Strand war noch voller als zuvor, einige Touristen hatten sich wie Schaulustige neugierig um das Boot der Rettungswache versammelt, um stets auf dem neuesten Stand über das Schicksal einer Fremden, dem Schicksal von mir, informiert zu sein. Die ersten schienen ihre Smartphones auszupacken und auf die Szene des Aufeinandertreffens von meinem Vater und mir zu halten. Ich hatte mich nie sehr darum gekümmert, wenn Fernsehberichte über das respektlose Verhalten von Passanten bei Unglücken berichtet hatten. Nun befand ich mich selbst in der Opferrolle und damit im Mittelpunkt dieses ganzen Spektakels, so dass ich mir nichts sehnlichsteres als Privatsphäre wünschte. Ich nahm eine Hand schützend vor mein Gesicht und blickte in Bastians aufblitzende Augen, als mir bewusst wurde, dass er meine Frage nicht mehr beantworten würde. Wir waren viel zu schnell angekommen, ich hatte nur einen Bruchteil meiner Fragen stellen können.

Scheinbar konnte Bastian mich anhand meines Gesichtsausdrucks wie ein Buch lesen.

"Wir reden später weiter.", beantwortete er meine unausgesprochene Sorge keine Antworten mehr zu erhalten.

Bastian erkannte wohl, dass mir diese Aufmerksamkeit unangenehm war, so dass er sich mit dem Rücken zur Menschenmenge wendete, als mein Vater ankam. Er verstand mich erschreckend oft ohne Worte.

"Amelie, Amelie,...", wimmerte mein Vater unter Tränen die Luft außer Atem einschnappend, während er meine Hände fest umklammerte. Das Zittern seines gesamten Körpers übertrug sich auf meine Arme in dieser einen Berührung. Seine Augen waren gerötet und spiegelten die Sorge um mich wider, die ihn die letzten Minuten, vielleicht sogar Stunden -mein Zeitgefühl war zu schlecht, um die Dauer meiner Abwesenheit genau einzuschätzen- verfolgt hatten. "Ich hatte solche Angst um dich, mein Ein und Alles. Wie geht es dir? Der Rettungswagen steht direkt an der Straße, dort können wir dich untersuchen lassen. Alles wird wieder gut." Mein Vater redete wie ein Wasserfall. Er ließ mich gar nicht zu Wort kommen.

"Papa, mir geht es gut, alles in Ordnung, wirklich.", stammelte ich vor mir her ohne, dass mein Vater aufhörte zu reden. Er schien mir gar nicht zuzuhören, aber seine Flut an Worten ging in dem Genuschel verschiedener Sprachen unter. Mittlerweile hatte sich eine Menschenmenge bestehend aus zu aufdringlichen Einheimischen und Touristen, die ihren Hals fast unnatürlich verrenkten, um einen Blick auf mich zu erhaschen, um mich versammelt. Ein Sanitäter tauchte aus dem Nichts auf, zog ohne zu fragen meinen Arm ruppig zu sich und begann meinen Blutdruck zu messen.

"Was ist mit dir passiert?" Sinas besorgte Stimme klang aus dem Gewirr hervor, so dass ich mich so gut wie es auf Bastians Arm ging zu ihr wendete. Der lästige Sanitäter beendete seine ersten Untersuchungen mit einem positiven Hand Zeichen und verschwand so plötzlich wie er aufgetaucht war. Sinas Gesichtsausdruck änderte sich von besorgt zu verwirrt, als sie in das für sie bekannte Gesicht von Bastian blickte.

"Was machst du denn hier?", fragte sie ungläubig darüber, wen sie gerade erblickt hatte. In ihren feuerroten Augen standen die Tränen der Trauer und Selbstverachtung, die selbst ihre wasserfeste Wimperntusche zum Verlaufen gebracht hatten. Sie musste sich die Schuld für alles gegeben haben, weil sie mich ins Meer gelockt hatte, und war mit dieser Last in der kurzen Zeit der Ungewissheit durch die Hölle gegangen. Mit dieser Aussage brachte sie meinen Vater zum Verstummen, der diese Worte zunächst in seinem Kopf sortierte.

"Ihr kennt euch?", fragte er mit einem Unterton in der Stimme, der seine Ungläubigkeit ausdrückte, während er unaufhörlich mit seinem Zeigefinger von Sina auf Bastian und zurück zeigte.

"Flüchtig, wir haben uns bei dem ersten Strandbesuch getroffen.", antwortete Sina mit einem Schulterzucken, als wäre es das normalste auf der Welt am Strand solche Typen kennenzulernen. Damit hatte Bastian die ungeteilte Aufmerksamkeit von meinem Vater und der interessierten Menschenmenge, die deutsch verstand.

"Wer sind Sie überhaupt? Was haben sie mit meiner Tochter angestellt." Zorn funkelte in Vaters Augen. Er stemmte seine Arme zwischen mich und Bastian, so dass mich mein Retter auf meinen Füßen absetzte. Woraufhin ich Richtung Sina taumelte, die mich auffing, meinen Arm um ihre Schulter legte und mich stütze. Alles ging so schnell, so dass ich mich nicht gegen die Trennung von Bastian wehren konnte. Mir war gar nicht bewusst gewesen wie sehr mich mein Überlebenskampf geschwächt hatte und wie sehr sich jede einzelne Zelle meines Körpers schon nach kürzester Zeit der Distanz nach ihm sehnte.

Ich beobachtete den Streit zwischen meinem Vater und meinem persönlichen Held aus einer anderen Perspektive, in der er noch schmächtiger und kleiner im Gegensatz zu Bastian wirkte.

"Antworten Sie mir!" Mein Dad tippte drohend mit seinem Zeigefinder gegen Bastians im Rhytmus der Atmung bewegenden Brust, die wohl geformt war. Als selbst mein Vater merkte wie lächerlich diese Androhung im Angesicht dieser ihm gegenüberstehenden Muskelmasse war, nahm er den Finger kopfschüttelnd zurück. Ich wollte mich zwischen die beiden Stellen und die Situation beruhigen, immerhin wusste ich nicht wie Bastian bei Drohungen von Vätern reagierte. Doch Sina hielt mich auf. Bastian schien den ganzen Trubel um seine Person im Gegensatz zu all meinen Erwartungen gelassen zu nehmen.

"Er hat mich vor der plötzlich auftretenden Strömung gerettet.", platzte diese Lüge aus mir heraus, woraufhin sich alle Köpfe zu mir bewegten und ich merkte wie ich bei der wiedergewonnenen Aufmerksamkeit im Erdboden versank. In solchen Situationen wünschte ich mir, mich in eine winzige Fliege verwandeln zu können und davon zu fliegen, einfach all meinen Problemen aus dem Weg gehen zu können. Meinen Vater schien das zunächst nicht zu besänftigen.

"Stimmt das?", knurrte er zwischen seinen sonst zu einer starren Miene versteinerten Lippen hervor, während er seinen düsteren Blick zwischen mir und Bastian wandern ließ. Ich nickte verstohlen und schreckte auf, als sich Bastian zu Wort meldete.

"Es war ein glücklicher Zufall, der mich auf die Notsituation von Frau..." Er blickte zu mir, damit ich die Lücke in seinem Satz füllen konnte. "Kämpfe", fügte ich kaum hörbar ein, so dass es jedoch Bastian hören konnte. "...Frau Kämpfe aufmerksam gemacht hatte.", vervollständigte er seinen Satz mit einem unschuldigen und charmanten Lächeln, welches jede wütende Frau sofort besänftigen würde.

Mein Vater lockerte nur leicht seine wutentbrannte, versteinerte Miene und antwortete immer noch voller Zweifel:

"Wenn das so ist, dann ist das Mindeste, was ich tun kann, sie als Zeichen meiner Dankbarkeit zum Essen einzuladen. Ist ihnen heute Abend recht?"

"Diese Einladung werde ich dankend annehmen." Die Frage meines Vaters und die direkt darauf folgende Antwort von Bastian hallten in meinem Kopf nach. Ich brauchte einige Sekunden, um zu realisieren, dass ich Bastian tatsächlich heute wieder sehen würde und das dieses Mal unter erfreulicheren Umständen. Ein Grinsen breitete sich unwillkürlich auf meinem Gesicht aus und ich spürte wie Schmetterlinge in meinem Bauch aus ihren Käfigen befreit wurden und ein gribbelndes Gefühl erzeugten.

Dass mein Vater das Treffen für 19 Uhr an der Promenade vor diesem Strandabschnitt arrangierte, nahm ich nur noch dumpf im Hintergrund wahr. Das wichtigste war, dass Bastian dem Treffen mit meinem auf den ersten Blick grimmig dreinblickenden Vater zugestimmt hatte.

Schließlich wendete sich mein Vater mir zu, legte meinen freien Arm um seine Schulter und stützte mich mit Sina.

"Danach reisen wir so schnell wie möglich ab." Diese wenigen Worte strotzten vor Entschlossenheit, die sich wie eine unüberwindbare Wand vor mir auftat. Um diese zu überwinden, musste zunächst ein Plan ausgeklügelt werden, wofür mir gerade die Kraft fehlte.

Ohne ein Widerwort von Sina oder mir bahnten wir uns einen Weg durch die Menge.


















Die KristallwächterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt