Abschied Teil 2

177 23 16
                                    


Amelie



Mein Verlangen meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen wurde immer größer, so dass ich mich dazu entschied die Stille zu brechen:

"Hallo Mama, ich vermisse dich. Meine Gedanken sind so oft bei dir, aber das brauche ich dir sicherlich nicht zu sagen, weil du mir doch immer gespannt zuhörst. Weißt du, wieso ich das so genau weiß? Ich spüre deine Nähe jedes Mal, wenn ich dich brauche. Wenn ich alleine bin, dann bist du bei mir und leistest meiner Seele Gesellschaft. Bei schwierigen Entscheidungen hilfst du mir den richtigen Weg zu finden, in dem du mein Bauchgefühl beeinflusst. Da bin ich mir ganz sicher."

Ich sah zuerst zu meinem Vater, der mit starrer Miene aufs Meer schaute. Ich war unsicher darüber, ob ich weiterreden sollte. Was war, wenn ihn diese Worte aus meinem Innersten noch trauriger machten? Sollte ich an diesem besonderen Ort an mich denken und mir all meinen Kummer ein letztes Mal von der Seele reden oder Rücksicht auf meinen Vater nehmen? Ich warf Sina einen Blick zu. Sie erwidert ihn mit einem Lächeln, das mir ein gutes Gefühl gab.

"Manchmal fantasiere ich und sehe dich vor meinem inneren Auge mit all deinen äußerlichen Veränderungen, die die Zeit mit sich gebracht hätte. Dazu zählen auch vereinzelt graue Haarsträhnen, die zwischen deinem braunen Haar hervorschimmern würden und leichte Falten, die dein Gesicht über die Jahre durch das viele Lachen und Grübeln erhalten hätte, welche deine bisher gewonnene Lebenserfahrung widerspiegeln würden. Das würde dich alles sympathischer und damit auch hübscher machen. Stell dir vor, was wir alles noch erleben könnten, wärst du bei uns. Wir könnten zusammen shoppen gehen, wobei du natürlich mein größter Kritiker wärst, oder einen Film gemeinsam anschauen, den du ausgewählt hättest, und auch wenn ich möglicherweise den Trailer blöd gefunden hätte und nach der Hälfte des Filmes eingeschlafen wäre, wäre es trotzdem ein gelungener Filmeabend gewesen, denn du wärst bei mir gewesen. Ich wünsche mir so sehr, dass ich mit dir über nichtige Dinge wie das Wetter reden könnte, aber auch über Wichtiges wie meine Zukunft. Das würde wie bei anderen Familien sicherlich auch mal in einem Streit enden. Aber das wäre ok, denn ich wüsste, dass du bei mir wärst und dass du dich um mich sorgst. Doch am allerliebsten würde ich dir sagen, wie sehr ich dich liebe und das du die beste Mutter, oder viel besser ausgedrückt der wunderbarste Mensch auf der ganzen Welt für mich wärst. Ich würde dich so gerne in die Arme nehmen, deine Nähe spüren und dich einfach vor Glück feste an mich drücken, doch das wird nie mehr hier auf Erden möglich sein. Dafür wirst du für immer in meinem Herzen eingeschlossen sein."

Meine Gefühle drehten mit mir durch. Ich war glücklich und traurig zugleich. Glücklich darüber, dass ich mir alles über die Jahre Angestaute von der Seele reden konnte, und traurig, weil mir zum millionsten Mal bewusst wurde, wie sehr ich meine Mama vermisste.

"Viel zu oft stelle ich mir die Frage, wieso es das Schicksal mit uns so schlecht gemeint hatte. Ich weiß, dass ich sie mir nicht stellen sollte, weil ich mir nur stundenlang darüber den Kopf zerbreche und doch keine Antwort darauf finden kann. Es ist so nervenzehrend und ich versuche mich dann auch immer abzulenken, aber es ist wirklich schwer aus dieser Fragenspirale nach dem wieso und warum, die einen immer tiefer in ein leeres Loch der Empfindungslosigkeit zieht, wieder herauszukommen. Zum Glück gibt es da noch Papa."

Ich lächelte ihn an und drückte seine Hand fester. Der Wind wehte an meinen Wangen vorbei, was sich sehr kühl anfühlte, denn ohne es wirklich zu bemerken, hatten sich ein paar Tränen ihren Weg über mein Gesicht gebahnt.

"Er kümmert sich immer sehr fürsorglich um mich und erkennt selbst wenn ich zum zehnten Mal sage, dass es keinen Grund zur Sorge gibt, dass es mir schlecht geht. Er ermutigt mich in Allem, was ich tue, und gibt mir die ein oder andere wichtige Lebensweisheit mit. Ich erinnere mich dabei gerne an meine kläglichen Versuche das Fahrrad fahren zu erlernen. Nach dem gefühlten hundertsten Sturz, kam er auf mich zugerannt und hat mich wieder aus dem Gewirr von Fahrrad und Beinen befreit. Ich wollte nicht mehr auf das Fahrrad steigen, zu schmerzlich waren die Erfahrungen bei jedem einzelnen Sturz gewesen, aber er hat gemeint: 'Wenn du heute aufgibst, wirst du nie wissen, ob du es morgen geschafft hättest.' Das hat mich, obwohl ich noch ein Kindergartenkind gewesen bin, zum Grübeln gebracht, aber was viel wichtiger ist, es hat mich motiviert weiter zu üben. Am nächsten Tag habe ich dann tatsächlich alleine auf der Straße vor unserem Haus fahren können. Er geht mit mir durch jegliche Höhen und Tiefen, nur um sicher zu gehen, dass ich am Ende wieder glücklich bin. Du musst dir also keine Sorgen um mich machen. Aber die machst du dir auch sicherlich nicht, denn du weißt, dass ich bei ihm in den besten Händen aufgehoben bin."

Nur das Meeresrauschen füllte die darauffolgende Stille aus. Ich umarmte meinen Vater und legte meinen Kopf auf seine Brust, so dass ich seinen beruhigenden Herzschlag hören konnte. Nachdem er mir einen Kuss auf die Stirn gegeben hatte, drückte er meinen Kopf leicht an sich. 

"Da ist ein Land der Lebenden und da ist ein Land der Toten, sagte der Dichter.", führte Frank nach einer Weile seine Rede fort. "Wir haben viele Erinnerungen mit dir im Land der Lebenden und auch viele Vorstellungen darüber, was wir alles noch gerne mit dir erleben wollen würden. Darüber könnten wir noch viel mehr erzählen, als die Zeit hier und heute ausreicht. Über das Land der Toten, in dem du wohl schon längst angekommen bist, können wir nur Vermutungen äußern. Wir wissen nicht, was uns dort erwarten wird und ob es dir dort gut ergeht. Damals konnten wir dir nur hilflos nachblicken und auch heute können wir nicht viel für dich tun, außer dir unsere guten Wünsche mitgeben für die Wege, die du ab jetzt noch gehen wirst, und für das Land, das dir auch weiterhin als Heimat dienen soll. So geh du nun, wir lassen dich los!", erzählte Frank, bevor er unter Tränen am Meer zusammensackte und sich auf die Knie fallen ließ.

"Ich will dich doch einfach nur bei mir haben." Seinen Wunsch konnte ich nur schwer verstehen, zu laut war sein Schluchzen. Ich setzte mich neben ihn in den Sand und umarmte ihn. Es tat gut mit meinem Vater meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen.

"Wir wünschen dir, dass du dich an diesem Ort nicht alleine, sondern geborgen und sicher fühlst." Ich erschrak, als ich Sinas Stimme hörte, wie sie einen Wunsch an meine Mutter aussprach. Durch die aufgekommenen Emotionen hatte ich sie und die Zeit ganz vergessen. Mein Vater schien sich wieder zu beruhigen und schloss sich Sina an:

"Wir wünschen dir, dass du jeden Gedanken von uns an dich erhörst." Dabei zog er mich mit sich hoch auf die Beine, so dass wir uns Arm in Arm nebeneinander stellten und ich meinen Wunsch in Richtung Meer rief:

"Wir wünschen dir, dass du deinen Frieden gefunden hast."

Auch meine Tränen versiegten. Woraufhin mein Vater die roten Rosen vor sich auf die  flachen Wellen des Meeres legte, so dass sie sich im Rhythmus des Wassers mitbewegten. 

"Ich habe dir 23 rote Rosen mitgebracht. 13 Stück für die 13 Jahre, die du mir nun schon fehlst und zehn Stück für die wundervollen zehn Jahre, die ich mit dir verbringen durfte." Mein Vater, der Romantiker, hatte meine Mutter zu Lebzeiten sicherlich häufiger überrascht, ob mit Blumen oder einem selbstgekochten Essen, einfach nur weil er sie so sehr geliebt hatte. 

"Da ist ein Land der Lebenden und da ist ein Land der Toten. Als Brücke zwischen beiden steht unsere Liebe. Diese Brücke ist stark und sie wird bis in alle Ewigkeiten halten, denn sie ist gebaut aus Steinen unserer Liebe zu dir, befestigt mit unseren vergossenen Tränen, verfugt mit unseren Erinnerungen und unseren guten Gedanken. Sie dient als Verbindung zu dir, als Verbindung über die Grenze hinweg, über die Grenze zwischen dem Land der Lebenden und dem Land der Toten.", beendete Frank seine Abschiedsrede. 

Sina hatte in der Zwischenzeit mitgebrachte Papierboote mit daraufgestellten Teelichtern vorbereitet. Wir entfachten die Lichter, bevor wir die Boote zu Wasser ließen, und ihnen andächtig nachschauten, während die sachten Wellen sie allmählich aufs offene Meer trugen. Unsere Möglichkeit den Ort des Unglücks in der nahenden Dunkelheit zu beleuchten. 

"Tschüss, adieu, bis irgendwann, bis auch wir über diese Brücke schreiten werden."


Die KristallwächterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt