Schmerz

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  • Gewidmet Daphne
                                    

Lui hatte viele Stunden zu Hause verbracht. Er hatte nicht geredet und gegessen auch nicht geweint, er hatte einfach nur dagesessen und ins leere gestarrt. Sämtliche Versuche seiner Eltern ihn zum Reden zu bringen, um seiner Familie zu helfen, waren gescheitert. Natürlich machte es nichts es würde ebenso wenig bringen, wie die Stunden die er mit Mi und Ria in dem versteck verbracht hatte, dass sie alle drei immer verbunden hatte. Mi hatte ihn besucht, hatte sich neben ihn gesetzt und ebenfalls geschwiegen. Sie verstanden sich ohne ein Wort zu sagen. Mi war die einzige, die er eines Blickes würdigte, doch hatte sie den Schmerz nicht lindern können… eigentlich hatte sie es auch nicht versucht. Sie hatte sich an seine Seite gesetzt und war in Gedanken versunken, hatte kein Wort gesagt, bis sie wieder gehen musste, um ihre Arbeit zu tun. Nun saß Lui alleine dort und fragte sich, ob Ria jemals wieder Ria würde sein können, ob er jemals würde vergessen können, was ihr- wahrscheinlich in diesem Moment- widerfuhr. Jedes Mal, wenn er an den jungen Fürsten dachte –und er dachte an fast nichts anderes-, wurde ihm schlecht und er hatte das Bedürfnis, den Gleichen zu erschlagen, und seinen Vater gleich mit. Wenn er den Gedanken und einen wild gewordenen, seinen Wahn auslebenden Fürsten Sohn und Ria verdrängt hatte, dachte er an seinen Bruder, den der Vater von ersterem töten würde. Die Gedanken drehten sich im Kreis, die Stunden vergingen und die Visionen wurden schlimmer und schlimmer ihm wurde schlechter und schlechter und er fing immer heftiger an zu zittern. Sein Schmerz vermischte sich mit tobender Wut, und er wollte schreien, rennen, um sich Schlagen- Töten. Ja, das war es. Er wollte sie alle Töten, alle die die Verantwortlich waren, er wollte sie alle einzeln erschlagen. Er warf sich vollendens auf dem boden, krallte die Hände in seine Haare und schrie. Hätte er doch nur wieder weinen können. Alles herausweinen war sich in ihm sammelte, aber seine Augen waren ebenso trocken wie sein Hals und seine Kehle war zugeschnürt, sodass ihm kein Laut über die Lippen kam. Ihm wurde schmerzlich bewusst, wie hilflos er am Boden lag, in einem kleinen Haus im ärmsten Viertel der Stadt und bald seinem Bruder zusehen würde, wie er seinen Weg zum Galgen antrat, und mit viel Glück eine, höchstwahrscheinlich völlig veränderte Ria zurückbekommen würde. Er hatte das Gefühl zu platzen. Er wälzte sich am boden, wie von Körperlichem Schmerz geschüttelt und konnte doch immer noch nicht schreien, oder weinen. Er drückte sich hoch und krümmte sich wieder zusammen und fragte sich, ob irgendeine Folter schlimmer sein konnte. Er bemerkte seine Mutter nicht, die in der Tür stand und ihren Sohn beäugte. Sie wusste, dass man ihr jüngerer Sohn ebenso verloren war wie der ältere. Er würde mit Fabio sterben und einen veränderten Lui  zurücklassen. Dies war ein Gedanke, den sie als Mutter nicht ertrug und obwohl sie keine Worte hatte und tief, tief in sich, selbst den Schmerz fühlte, der ihren Sohn quälte, ließ sie sich neben ihn sinken.

Er zuckte heftig, als er ihre Hand auf seinem Rücken spürte, weil sie ihn aus dem tiefsten Winkel, seiner schmerzenden Seele riss. Er drehte sich um und spürt Hass, Wut und Schmerz. Er sah die Sorge in den Augen seiner Mutter, hörte ihre Worte wie durch einen Nebel. „Alles wird gut, glaube an das Licht, Lui“

Sie verstand nicht. Nicht im Geringsten. Nichts würde gut. Er zitterte erneut. Dieses mal so stark, dass er selbst erschrak. Seine Mutter redete weiter mit sanfter Stimme, sie half ihm nicht- sie macht es schlimmer. Sie verstärkte den Schmerz und die Gewissheit, dass er alles verlieren würde und das ließ ihn aufspringen. Aufspringen und rennen. Aus dem Haus, durch die Straßen, hinauf in die reichen viertel. Wohin? Egal, einfach Laufen. Den schmerz hinter sich lassen… Doch es ging nicht. Er konnte ihn reden hören, den kleinen unsichtbaren Urheber der Stimme die ihn in den Wahnsinn trieb, die ihm immerweiter vor Augenfürte, dass es keinen Ausweg gab, und das er dumm war, zu glauben er könne davon laufen… Lui stoppte abrupt. Seine Beine hatten ihn- ganz von selbst hoch zu dem kleinen Platz vor der Burg getragen. Und dort stand er…und traute seinen Augen nicht…

Er sah Ria, aus dem Burgtor treten, bleich und schmutzig, vielleicht ängstlich, durch das unwahrscheinlich große Tor, und einen verstörten Gesichtsausdruck zu schau tragend. Doch er kannte sie. Er sah ihr an, dass sie nur spielte, dass keines der Gefühlte auf ihrem Gesicht echt war und er fragte sich, was passiert war, was sie wirklich fühlte und ob er vielleicht endgültig wahnsinnig war und Visionen hatte. Sie erblickte ihn, und ein fast unmerkliches Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Sie ging auf ihn zu… und an ihm vorbei, hinein in die Gasse, wo sie außer Sichtweite der Burg war. Er folgte ihr, langsam. Jetzt erst spürte Lui, wie sein Herz raste, wie sehr er schwitzte und wie außer Atem er war. Er trat um die Ecke. Da stand sie… und drehte sich um. Sie sah ihn an, und endlich konnte er die Gefühle auf ihrem Gesicht deuten….

HalbblutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt