grauer Nachmittag

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Die Vögel kreisten über der Stadt, und die Sonne tauchte die Dächer der Häuser in warmes Licht. Die Ruhe vor dem Sturm, dachte Ria. Die Straßen waren wie ausgestorben, was seltsam war, an einem Samstag. Die Elben hatten fest mit dem Trubel, der gewöhnlich an Markttagen herrschte, gerechnet. Doch er blieb aus. So gingen nur wenige über die Straßen, die Kapuzen tief in die Gesichter gezogen und hastigen Schrittes, weil sie sich nicht in der Menge verstecken konnten, und taten als wüssten sie, warum die Straßen gemieden wurden.  Die meisten bewegten sich über die Dächer der Stadt. Die losen Ziegel rutschten leicht unter den Füßen weg, und ein weiteres Mal zögerte Ria. Sie waren noch nicht weit gekommen, und wie sie so über die Dächer der noch sehr armen Viertel der Stadt schlich, zusammen mit Mi, die jedes Mal zusammenzuckte, wenn irgendwo ein Geräusch ertönte, zweifelte sie immer mehr an ihrer Entscheidung. Ria hatte das Gefühl, dass irgendwas in dieser Stadt heute nicht stimmte. Denn egal wie weit sie in die Stadt kamen, waren keine Menschen auf der Straße zu sehen. Nirgendwo ein Zeichen, dass es noch Leben in dieser Stadt gab. Nur Stille. Dann geschah etwas Unvorhergesehenes. Eins folgte das andere. Mi verlor auf einem losen Ziegel den Halt und rutschte ab. Ria hechtete ihr nach, und hielt sie fest bevor sie vom Dach fiel; Der Einzige Grund, weshalb sie einem Geschoss entging, das dort flog, wo noch vor Sekunden ihr Kopf gewesen war. Dann hörte sie Schritte unten auf der Straße. Jemand kam von der Stadt hinunter. Eine Frau. Eine Elbe. Sie sah die Mädchen auf dem Dach. „Lauft zurück!“, schrie sie „Wir sind in eine Falle gelaufen“

Ria sprang, über das Dach einer Werkstatt hinab auf die Straße und Mi folgte ihr. Ein weiteres Geschoss folgte, offenbar auf die rennende Frau gezielt, sie hatte die Mädchen noch lange nicht erreicht, als sie plötzlich zu Boden ging. Etwas hatte sie von den Beinen gerissen. Aus zwei Häusern kamen Soldaten gestürmt und gingen auf die Frau los. Für einen Moment stand Ria wie versteinert. „LAUFT“ Schrie die Frau noch einmal, nun deutlich hörbar unter Tränen und Ria rannte, und zog Mi mit sich. Weg von dem Geschehen, auch wenn sie sich schuldig fühlte die Frau im Stich zu lassen. Sie wurden verfolgt. Ria hörte die schweren Schritte eines Soldaten hinter sich, und schaurige Erinnerungen überkamen sie, an eine Nacht, in der sie vor Branko geflohen war. Sie rannte schneller und zog Mi mit. Obwohl sie sich am Limit ihrer Geschwindigkeit glaubte, schaffte sie es noch schneller zu rennen, als das Geschoss einer Steinschleuder an ihrem Ohr vorbei sirrte. Denn Verzweiflung macht stark und Mi schien ebenfalls langsam zu Besinnung zu kommen. Sie ließ sich nicht mehr mitziehen, sondern rannte selber um ihr Leben. Ria spürte die Angst in ihrem Nacken kribbeln während sie sich langsam aber sicher dem Elbenviertel näherten. Sie hoffte, dass sie dort sicher sein würden, weil sie sich dort auskannten, und weil sie hoffte, dass ihr Verfolger es nicht wagen würde das gefürchtete Viertel zu betreten. Ihr Kopf war nur darauf fixiert dass sie das Viertel erreichten. Keine Gefühle außer Angst und Verzweiflung waren in ihr. Sie bogen um eine kleine Kurve und der Torbogen des Elbenviertels kam in Sicht. Endlich. Sie hörte ein Geschoss heran sausen, und konnte ausweichen, reflexartig, durch schnelles Reagieren ihrer scharfen Sinne. Der Schreck kam erst später. Auch Mi sprang vor einem Geschoss davon, geriet dabei aber ins Straucheln, und fing sich gerade wieder, als ein gut gezielter Stein, sie in die Kniekehle traf. Das getroffene Bein gab nach und knickte ein. Mi schrie und Ria merkte, dass sie nichtmehr an ihrer Seite war und drehte um, sie lief die paar Schritte zurück, die sie schon voraus war. Ihre Verfolger hatten sie fast erreicht. Zwei bewaffnete Soldaten. Jeder eine sehr gut gearbeitete Steinschleuder in der Hand. Ria riss Mi auf die Füße, die machte zwar einen Schritt, aber das getroffene Bein versagte. Ria spürte das Adrenalin durch ihre Adern pulsieren, und merkte wie Angst und Verzweiflung ersetzt wurden, durch ein Gefühl, dass ihr völlig fremd war. Eine Emotion die sie nicht kannte. Aber es beruhigte sie. Dann, handelte ihr Körper, ohne, dass sie selbst begriff was sie tat. Wieder schimmerte es um sie herum, wie jetzt schon einige Male zuvor. Wie in Zeitlupe, sah Ria das Geschoss auf sich zu fliegen, perfekt gezielt, und die Männer hatten sie fast erreicht. Aus Instinkt riss sie den Arm hoch, und die pulsierende Aura entlud sich, explodierte förmlich, und riss die Männer von den Beinen. Das Geschoss prallte zurück, als wäre es in ein Sprungtuch geflogen und raste Zurück in die Richtung aus der es gekommen war, dann schlug es direkt neben dem Kopf, des einen Soldaten in den Boden ein, und hatte eine solche Geschwindigkeit, dass der Boden zu beben begann. Dann war es vorbei. Die Männer lagen am Boden, und der eine fasste sich an den Kopf, als wäre er mit etwas sehr starkem zusammen geprallt, der andere lag regungslos da. Ria regierte sofort. Sie zog Mi ein weiteres Mal auf die Füße und die biss die Zähne zusammen und rannte, so gut sie konnte mit Ria die letzten Meter zum Elbenviertel. In den vertrauten Gassen, liefen sie nicht mehr ganz so schnell, erreichten aber trotzdem im Laufschritt, das Haus von Rias Tante. Auch wenn ihnen längst klar war, dass sie entkommen waren. Sie klopften und Mandy öffnete fast Augenblicklich. Sofort stürzen sie hinein und verriegelten die Tür. Mi sank auf den Boden und Ria lehnte sich gegen die geschlossene Tür. Ihr Herz pulsierte und ihre Gedanken fuhren Karussell. Was war geschehen? Die laufende Frau hatte von einer Falle gesprochen. Und wieder einmal war etwas Seltsames mit ihr passiert. Immer wenn sie die Kontrolle verlor, in Wut oder Verzweiflung geschah es, und es hatte sie mehr als einmal gerettet. Was war das? War das normal? Sie hatte noch nie davon gehört. Sie ließ sich an der Tür hinab auf den Boden sinken. Langsam beruhigte sich ihr Puls und ihre Atmung wurde wieder normaler. Diese Widerliche Art der Aufregung, die sie erfüllt hatte, ebbte ab, und wich einem Gefühl von Sorge und Angst. Eine andere Art von Angst, als die auf der Straße kurz zuvor. Keine panische Angst. Sorg volle Angst. Angst vor dem was kommen würde, nicht vor dem was war. Was war mit all denen die in die Stadt gegangen waren? Wie gerne hätte sie nachgesehen, aber es war schierer Selbstmord, dieses Viertel in den Nächsten Stunden zu verlassen. Ihre Finger nestelten am Stoff ihres Kleides. Auch Mi hatte sich beruhigt. Sie saß am Boden und versuchte, mit schmerzverzerrtem Gesicht, ihr Bein zu strecken. Ria zwang sich ihre Gedanken vorerst beiseite zu schieben und rappelte sich auf, um zu Mi hinüber zu gehen. Sie stütze sie bis zu der Bank und half ihr, sich darauf zu setzten. Mi ließ sich auf die Bank sinken und lehnte sich erschöpft mit dem Rücken an den Tisch, und legte in Kopf in den Nacken. Mi hatte einfach zu viel Pech in den letzten Tagen. Ria raffte sacht Mis Rock ein Stück, bis er das Knie freigab. Es war komplett angeschwollen. Sie hatte es durchgestreckt und man konnte förmlich zusehen wie es weiter anschwoll. In der Kniekehle, wo der Stein sie getroffen hatte rann Blut aus einer kleinen Wunde, die allerdings alleine nicht weiter schlimm gewesen wäre. Viel mehr Sorgen machte Ria sich um das offensichtlich verletzte Gelenk, da das Knie auf Doppelte Größe angeschwollen war. Sie hatten die Letzten Stoffreste fürs Wasseraufwischen gebraucht. Deshalb holte Ria den saubersten Streifen den sie finden konnte und wusch ihn in kaltem Wasser nochmal aus und wickelte den Kalten Lappen dann um das geschwollene Knie. Mehr konnte sie ohne Kräuter oder irgendetwas medizinisches vorerst nicht tun. Sie blieb vor Mis Bein auf dem Boden sitzen und guckte es Gedankenverloren an. Die drei Kinder saßen in der Stube und hatten nichts gesagt oder sich bewegt, seit die beiden großen Mädchen zurückgekommen waren. Mi seufzte. „Was jetzt? Was sollen wir tun?“ Ria zuckte mit den Schultern. „ich glaube erstmal können wir gar nichts tun. Irgendwie helfen können wir, wenn es wirklich eine Falle war, im Moment sowieso nicht.“, sagte Ria nachdenklich. „ Außerdem denke ich nicht, dass du in der Lage bist dich hier so schnell weg zu bewegen“, bemerkte sie mit einem Blick auf Mis Knie. „Ich fürchte wir müssen hier einfach ausharren und uns um deine Verletzung kümmern und gucken was jetzt passiert. Eine bessere Idee hab ich sonst nicht“ Mi nickte nur. Es gefiel ihr nicht. Ria wusste, dass sie lieber etwas gemacht hätte, anstatt Ungewissheit zu haben, wie es ihren Eltern, besonders ihrer schwangeren Mutter ging, oder ob sie überhaupt noch lebten. Ria setzte sich neben Mi auf die Bank und sie schwiegen eine Weile, ein bedrücktes Schweigen. In der törichten Hoffnung, dass es klopfen würde, und die Erwachsenen wohlbehalten zurückkehrten. Aber die Zeit verstrich, in der niemand ein Wort sagte, und niemand kam. Schließlich brach Mi das Schweigen. „Was war das eigentlich eben?“ Ria wusste sofort, was sie meinte, aber sie konnte es selbst nicht erklären. „Ich weiß es nicht, aber es war nicht das erste Mal, dass sowas passiert ist.“, antwortete Ria langsam. „Wo ist es denn schon passiert?“ Ria dachte zurück, an ihren Ungewollten Ausflug an die Decke, des Ratsgebäudes. „Das erste Mal war, als ich im Ratsgebäude war, das zweite Mal, als ich Branko getroffen habe, und Lui dazu kam, und das Dritte Mal, als du gestern beinahe ertrunken wärst… und das vierte Mal gerade eben“, zählte sie auf. „Einfach so?“, frage Mi. Ria schüttelte den Kopf. „Ich war immer wütend oder verzweifelt, oder hatte Angst, und jedes Mal hab ich die Kontrolle verloren, und jedes Mal, hat es ziemlich genau das bezweckt, was ich mir gewünscht habe, um der Situation zu entkommen.“

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