Albträume und andere nächtliche Geschehnisse

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Die Sonne kroch langsam über die Häuser. Ihre ersten Strahlen griffen zögerlich in den Himmel und tauchten Dächer der Stadt in einen leichten goldenen Schimmer, doch noch war es still in den Straßen des Elbenviertels. Kaum jemand wollte mehr die ärmlichen Häuser verlassen und sich freiwillig an eine Arbeit begeben die ihnen die spärliche Kraft nur noch schneller raubte.  Mi saß wieder an Rias Seite und sah zu wie die Kraft ihrer Freundin zusehend verschwand. Sie war lange nicht mehr wach gewesen und obwohl Callums Nachricht sie zum Lächeln gebracht hatte und einen Funken Hoffnung geweckt hatte, wusste Mi nicht ob sie überhaupt den Vormittag noch überstehen würde, geschweige denn den ganzen Tag. Sie schob den Gedanken beiseite. Es würde schon klappen- leider glaubte sie sich selber nicht wirklich.

Eine Stunde nach der anderen verging. Mi hatte beschlossen an diesem Tag nicht zu der Mauer zu gehen. Irgendwie hatte sie das Gefühl das Rias Überlebenschancen besser waren, wenn jemand über sie wachte. Ganz davon abgesehen war ihr selbst bereits dauerhaft schwindelig und es kostete sie einiges an Willenskraft sich nicht einfach ebenfalls auf ein Krankenlager zu legen. Sie hatte dauerhaft das Gefühl brechen zu müssen, daher war es fast gut, dass sich in ihrem Margen absolut nichts mehr befand. Irgendwann wurde ihr selbst das Sitzen zu anstrengend und sie legte sich auf den harten Boden, setzte sich aber sofort wieder hin, weil die Welt sich zu drehen anfing.

Rias Fieber stieg immer weiter und zwischendurch warf sie sich hin und her, in bösartigen Fieberträumen, Bilder die sie übermannten. Sie sah so vieles, zusammenhangslos. Verzweifelte, entstellte Kinder, Angst, Dunkelheit, Wesen die sie nicht benennen konnte und tot. Immer wieder tot. Sie sah Mi und Lui sterben. Ihre Tante. Deren Kinder. Lauter Elben. Und Callum. Mal in Feuer, mal in Wasser. Durch Menschenhand oder durch einen Unfall. Immer, immer wieder. Sobald sie alle ihre Kraft darauf konzentrierte aus einem Traum zu entfliehen zog es sie in einen neuen. Es schien ihr das Leben noch schneller auszusaugen als der Mangel an Lebensmitteln. Mit jeder Minute, die sich anfühlten wie Jahre, kam sie dem Aufgeben immer näher. Sie wollte nicht mehr. Sie hielt es nicht aus. Immer wenn sie dachte, es sei vorbei zeigte sich, dass es noch schlimmer ging.

Mi bekam, zu ihrem Glück, nichts von Rias Träumen mit. Andernfalls hätte sie sicherlich die Hoffnung aufgegeben, dass Ria es bis in den Abend schaffen würde. Ria schwitzte unentwegt. Mi konnte ihre Stirn nicht mehr schnell genug trocknen und immer wieder gab sie ihr zu trinken, aus Angst sie könnte andernfalls austrocknen. Das kühle Wasser viel hörbar in ihren leeren Magen und hielt sie weitere zehn Minuten am Leben. Die Zeit kroch dahin. Es war zum Verrückt werden. Irgendwann wechselte Ria zwischen Albräumen und Ohnmacht.

In Rias Kopf wurde es regelmäßig dunkel und wenn die Dunkelheit sich wabernd wieder zurückzog wusste sie nicht mehr wie lange es dunkel gewesen war. Je öfter es hell und wieder dunkel wurde, desto schwacher wurde das Licht und der beinahe vertraute Nebel in ihren Gedanken wurde immer dichter, bis sie nur noch eine milchige, graue Masse in ihren Gedanken hatte, nur schreiende, rufende Stimmen waren geblieben, doch auch sie wurden immer dunkler. Sie ließ sich darin treiben, es zog sie hinab in eine andere Dunkelheit. Eine endgültige, noch tiefer schwärze, es war verlockend. Dann, ohne Vorwarnung, lichtete sich der Nebel und zeigte ihr Menschen, deren Namen sie in den letzten Stunden vergessen hatte. Callum, Mi, Lui, Una, Marissa, Mandy, alle Elben, die sie je gekannt hatte, selbst Branko und der andere Soldat, dessen Namen sie nicht kannte, immer weiter zurück in ihre Vergangenheit. Ein alter Elb bei dem sie als kleines Kind oft gewesen war. Und dann plötzlich eine Frau, die sie niemals bewusst gesehen hatte, doch die sie kannte. Die Erinnerung nahm Form an und sie sah einen Wald, eine Höhle und Angst in den Augen der Frau, doch nach weniger als dem Bruchteil einer Sekunde war das Bild wieder fort und der Nebel kroch zurück und verschloss ihre Sicht. Ria wollte schreien, doch ihr fehlte die Kraft. Sie sah das Schwarz unerbittlich näher kommen, und plötzlich war jede Verlockung darein einzutauchen restlos verschwunden. Sie Kämpfte wieder gegen den Strom. Sie wollte zurück zu diesem Bild, wollte mehr darüber wissen. Diese Frau war ihr bekannt vorgekommen und gleichzeitig so fremd. Zurück. Schnell. Mit aller Kraft.

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