5 ~ Pike

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Sechs Jahre waren in der zwischenzeit vergangen. Die seltsamen Träumen häuften sich und manchmal vergass sie, dass es ein Traum war, bis sie in ihrem Bett aufwachte.
Schweissgebadet und dem grauenhaften Nachgeschmack der Panik.
Nebst der Schule wurde Mysteria zu Hause von den Zwillingen, in Magie ausgebildet.

Aus dem kleinen Mädchen wurde eine junge Frau. Sie lernte ihre Kräfte zu kontrollieren und mit ihnen zu spielen.
"Magie ist wie ein Staudamm. Entweder kontrollierst du es, in dem du immer nur eine begrenzte Menge Wasser herauslässt, oder es kontrolliert dich und du wirst von der Wucht mitgeschwemmt", sagte Lithium immer, mit einem solch ernsten Gesichtsausdruck und bohrendem Blick, dass Mysteria eine Gänsehaut bekam.
Dann lächelte ihre Cousine und strich ihr durchs Haar. "Aber du kannst das. Du darfst nur nie vergessen, was passieren könnte, wenn du dich verlierst, okay?" Daraufhin konnte Mysteria nur nicken.

Am Nachmittag kam Mysterias einzige und beste Freundin, Pike.
Die beiden gingen, bepackt mit einer grossen Decke und Sandwiches, zum "Blumenmeer", wie Pike die Wiese nannte, die voller blühendem Löwenzahn, Butterblumen und allerlei anderen Blumen bedeckt war.
Pike war ein Schattenwesen, wie Mysteria. Doch anders als sie war Pike ein Halbblut. Sie war Halb-Estrapoll und Halb-Mascarkrona.

Eine Mascarkrona beherrschte eine Art Aufspür-Sinn. Sie konnten bestimmte Dinge oder Gefühle spüren, egal wo es war, oder um welche Entfernung es sich handelte. Pike besass die Fähigkeit Wut und Angst zu spüren. Mysteria brauchte deshalb nie zu erklären, warum sie an so manchen Tagen mit dunklen Schatten unter den Augen in der Schule erschien. Pike wusste ohnehin, wenn sie eine schlimme Nacht hinter sich hatte.

"Das macht wahnsinnig. Manchmal weiss ich selbst nicht mehr, ob es meine eigene ist, oder von jemand anderem", meinte sie, als sie Mysteria zum ersten Mal davon erzählte. "Nicht, das es für dich einfach wäre", sagte sie mitfühlend, als sie Mysteria ansah und zuckte mit den Schultern, als wollte sie sagen: Was können wir schon dagegen machen? So ist es nunmal.

Sie breiteten die grosse, quadratische Decke aus, dessen weinrote Farbe, Pike an einen Blutfleck erinnerte.
Ihre Haare stellten sich auf und sie suchte nach einem Thema, doch Mysteria kam ihr zuvor.
Leider nicht mit einem anderen Thema.

"Irgendwie unheimlich diese Farbe, nicht?", murmelte sie.
Pike reagierte nicht. Sie sass nur starr auf der Decke, als hätte jemand die Zeit angehalten und sah eine Motte auf ihrem Handrücken an. Ihr abwesender Blick verriet Mysteria, dass sie etwas spürte.

Wenn Pike etwas starkes spürte, versank sie in eine Art Trance und es kam Mysteria so vor, als würde sie bei einer Wahrsagerin sitzen und sich die Zulunft sehen lassen. Manchmal hatte Mysteria den Verdacht, dass Pikes Seele mit einer anderen getauscht wurde.
Sogar die Wortwahl schien nicht mehr zu ihrer besten Freundin zu gehören.

"Der Blutmond wird seine Glieder strecken und recken, als sei er gerade erst aufgewacht. Die roten Rinnsale, dessen dunkle Farbe erahnen lässt, um was für eine Flüssigkeit es sich handelt, umarmen die Königin der Nacht. Eingehüllt von der klebrigen Wärme und des Ekels ihrerseits, ruft sie die Dunkelheit zu sich.
Der König der Schatten gewährt ihr Schutz und die Schwärze versteckt die Königin. Sie sind beide dunkle Seelen und fangen an, sich zu lieben.
Dann kommt das Licht. Kein warmer Sonnenstrahl. Sondern ein gleisendes, helles Licht. So hell, dass es in den Augen brennt. So hell, dass die Königin und der König, die nicht für Helligkeit geschaffen sind, gleichermassen sterben.
Der Blutmond hat den Blitz geschickt, damit er seine Liebste, die Königin, zu sich hole.
Stattdessen erklingt sein Schrei: Ich habe alles verloren!", erzählte Pike leise.

Mysteria hatte schon mehrmals etwas derartiges von Pike gehört, doch hatten die Visionen noch nie so bizzar geklungen, wie jetzt.

Pike blinzelte und wurde wieder sie selbst. "Etwas wird passieren Mysteria. Ich weiss nicht, was es ist." Sie sah Mysteria mit grossen Augen an. Voller Überraschung, Angst und Entsetzen.
Mysteria konnte sich nicht erinnern, Pike jemals entsetzt gesehen zu haben.
Pike nahm Mysterias Hände in ihre und sah sie eindringlich an. "Myssie, ich weiss nicht, was passieren wird", wiederholte sie. "Doch es wird etwas schreckliches sein. Ich habe noch nie so viel Angst und Wut gespürt, wie nun und es ist nah." Der Händedruck verstärkte sich. "Bitte versprich mir, dass du auf dich aufpasst, okay? Das musst du mir versprechen!"
Mysteria wollte fragen, was Pike so in Panik versetzte, doch sie wusste, dass Pike selbst keine Ahnung hatte, sonst hätte sie ihr das gesagt. "Ich verspreche es. Aber du musst es mir auch versprechen!"
"Okay. Fingerschwur plus!"
Sie verhackten die kleinen Finger miteinander. Dann küsste Pike einmal drauf und Mysteria tat es ihr nach.
Schon war ihr Schwur etwas mehr wert, als ein üblicher.

Die Sonne ging gerade unter, als Mysteria und Pike ihre Sachen zusammen packten und unter dem feuerfarbenen Himmel ihren Weg zurückgingen. Um sie herum sah Mysteria nichts ausser dem Blumenmeer, trotzdem registrierten ihre Ohren Schreie und ein merkwürdiges, dauerhaftes Knistern und Knacken. Ein Reissen, als ob jemand eine silberne Klinge an die weiche Haut drückte und gewaltsam aufschlitzte.
"Pike, hörst du das auch?", fragte Mysteria leise und blieb zögernd stehen.

Drehte sie wieder durch, oder besass sie schon einen solch ausgeprägten Hörsinn, dass sie meilenweit entfernte Geräusche hörte? Pike blieb ebenfalls stehen, mit einem Gesichtsausdruck, den Mysteria gar nicht gefiehl.

Zustimmung.

"Pike?", fragte sie leise.
"Oh mein Gott. Myssie, ich weiss, was sie zu bedeuten hat! Ich verstehe es!" Die grünen Augen ihrer Freundin weiteten sich, als sie erkannte, was ihre Vision ihr schon die ganze Zeit mitgeteilt, dessen Sinn sie nur übersehen hatte. "Warte hier, Myssie, ich bin gleich wieder da!" Mit diesen Worten wirbelte Pike herum, überlegte es sich anders, drehte sich um und legte etwas in Mysterias Jackentasche.
Mit einem eindringlichen Blick und einem hastigen, freundschaftlichen Kuss auf die Wange rannte Pike, als wäre der Tod hinter ihr her.
Mysteria sah immernoch Pikes Blick vor ihrem geistigen Auge, nicht fähig sich zu bewegen.
Die blitzenden, grünen Augen waren voller Eindringlichkeit gewesen, ja. Allerdings war darunter Traurigkeit, eine stumme Entschuldigung, Liebe und Angst.

Mysteria stutze. Schon wieder Angst? Es war eines der wenigen Wörter, die Pike nicht kannte. Warum hatte ihre Freundin so viel Angst? Es musste etwas schlimmes sein, dass sie sogar zweimal an einem Nachmittag Angst bekam...
Mysteria dachte nicht mehr nach und rannte ihrer Freundin hinterher.

Die Chroniken der SchattenwesenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt