9 ~ Valentin

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Sie trug wieder das seidenblaue Kleid, wie in schon so vielen Nächten davor.
Doch anders als zuvor stand Mysteria in einem grossen Zimmer. Ein samtrotes Himmelbett machte sich zwischen einem Nachttisch und einer Kommode breit. Der grosse Schrank stand gegenüber und in der Ecke, neben dem Fenster stand ein mannshoher Wandspiegel. Ein pechschwarzer, glänzender Flügel stand in der gegenüberliegenden Ecke und sie liess ihre Finger über die wolkenfarbenen Tasten fliegen.
Ein Blick in den Spiegel verriet ihr, dass sie eine kunstvolle, nachtschwarze, venezianische Maske trug und ihre Lippen dunkelrot geschminkt waren. Ein Mädchen kam herein. Ihren schlichten schwarz-weissen Kleider nach zu urteilen, war sie eine Zofe.
Nur die aschblonden Wellen würde Mysteria unter 1'000 erkennen. 
"Pike?", fragte sie. Das Mädchen blickte auf und Mysteria stockte der Atem.
Pike war blind.

"Ja, Mylady?", fragte sie schüchtern. Mysteria konnte sich nicht erinnern Pike jemals schüchtern gesehen zu haben. "Was ist passiert?", fragte sie entsetzt.
"Aber das wisst Ihr doch, Mylady."
"Nein, tu ich nicht. Und lass das mit dem ''Mylady'. Du weisst, dass du mich dutzen darfst.", sagte sie. Aschblonde Strähnen fielen dem blinden Mädchen ins Gesicht, als sie den Kopf senkte. Als sie wieder sprach, brach sich ihre Stimme und sie versuchte die Tränen herunter zu würgen.
"Es tut mir leid", sagte Pike leise.
"Was meinst du? Warum weinst du?" Mysteria machte einen Schritt auf sie zu.
Sie wollte ihre Freundin umarmen, ihr die Tränen aus den Augen wischen und sie aufmuntern. Doch Pikes schneller Schritt nach hinten, liess Mysteria inne halten.
"Ich habe es versucht, wirklich! Ich wollte unseren Schwur einhalten, aber ich habe den Balken zu spät gemerkt." Pike hob den Kopf. Dursichtige Tränen rannen über ihre Wangen. Ihre Haut war blass, wie Elfenbein. Nicht fähig etwas zu sagen, schwieg Mysteria, bis Pike den schlimmsten Satz sagte, den sie jemals gehört hatte.
"Myssie... Deine Familie - Onyxia, Lithium und ich - ist tot."

Mysteria zuckte zusammen und schlug hellwach die Augen auf. Schnell schloss sie sie wieder, denn es war merkwürdigerweise taghell.

"Mädchen? Hörst du mich?", fragte eine Stimme. Sie gehört eindeutig an einen Jungen.
Eine Hand klatschte mehrmals sanft an ihre Wange. Blinzelnd öffnete Mysteria wieder die Augen.
Grün-blau-graue Augen sahen sie an.

"Wie eine Sturmwolke, auf der Gras wächst", kommentierte ihre innere Stimme.
Erst verstand sie gar nichts.
Doch dann erinnerte Mysteria sich wieder und rutschte hastig von ihm weg.
Wie war sie in das Zimmer gekommen?
Es sah genauso aus, wie in ihrem Traum, nur die Einrichtung war modernisiert worden.
Die Wände waren in einem hellen caramell-beigenton gehalten. Die Möbel waren aus echtem Mahagoni und vom Kronleuchter glitzerten helle Kristalle, die in allen Farben des Regenbogens schimmerten. Schwere, samtrote Vorhänge waren zur Seite geschoben worden und liessen die Sonnenstrahlen hereinscheinen. Mysteria fühlte den rubinroten Teppich unter ihren Fingern und der misstrauische Blick des Fremden.

"Hey, ganz ruhig. Wer bist du?", fragte er.
"Ria", sagte sie und nannte nur die letzten drei Buchstaben ihres Namens. Aus irgendeinem Grund widerstrebte es ihr, ihm ihren ganze Namen zu nennen.
"Wie bist du hier reingekommen?", fragte der Junge weiter.
Wie alt mochte er sein? 17 oder 18 vielleicht?
"Ich... Ich hab nach einer Bleibe für eine Nacht gesucht", sagte Mysteria, obwohl es nicht die Antwort auf seine Frage war.
"Wer bist du?", wagte sie zu fragen.
"Valentin. Was hast du wirklich hier gemacht?", antwortete er und sah sie nachdenklich an. Er glaubte ihr nicht.
"Ich habe niemanden mehr. Ausserdem weiss ich nicht wohin", gestand sie und erinnerte sich an ihren Traum.

Der Schock war immer noch da, weshalb sie nicht fähig war, zu trauern. Nicht einmal Traurigkeit fühlte sie.
Vielleicht war der Traum wirklich nur ein Traum gewesen. Denn woher konnte sie die Sicherheit nehmen, dass es real war?
Pike war mit den Zwillingen bestimmt zu Chera gelaufen.
Trotzdem hatte Mysteria dieses starke Gefühl, dass Pike's Seele sie wirklich in ihrem Traum besucht hatte.

"Seit wann denn?", fragte Valentin.
"Seit... gestern", sagte sie leise und sah den Kronleuchter an.
"Ich kann dich zu den Sacretti bringen. Sie würden für dich sorgen."
"Nein!", sagte Mysteria laut. Ihr Kopf schnellte in seine Richtung und sie sah ihn eindringlich an. "Bitte, nicht", flüsterte sie. Valentin sah sie fragend an und öffnete den Mund, doch Mysteria schüttelte nur den Kopf und sah zum Kronleuchter.
Valentins Mund schloss sich wieder, denn er hatte begriffen.

Sie würde nichts mehr sagen, solange sie nicht wollte.

Die Chroniken der SchattenwesenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt