2 ~ Das letzte Element: Der Geist

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Mysteria musste abermals auf die Innenseite ihrer Wange beissen, um keine Fragen zu stellen. Sie schloss seufzend die Augen und spürte, wie etwas mächtiges in der Luft lag. Es fühlte sich so an, als würde eine Person vor ihr stehen. Bevor sie wusste, was sie tat, hatte sie schon die Hand ausgestreckt und ihre schmalen Finger suchten nach diesem Etwas.

Lithium und Onyxia sahen zu, wie Mysteria ihre Hand ausstreckte. Das Mädchen öffnete die Augen, doch sie waren anders. Es war, als würde jemand in vollkommener Dunkelheit, die Scheinwerfer eines Autos anmachen. Mysterias neonblaue Augen leuchteten, wie zwei starke Taschenlampen und ihre Pupille war, wie ausradiert. "Gruselig, findest du nicht auch?", flüsterte Lithium. Onyxia schauderte. "Wenn man bedenkt, dass wir auch mal so ausgesehen haben mussten... Ja, ganz deiner Meinung", flüsterte sie zurück. In der Zwischenzeit hob Mysteria die Hand und ein goldener, glühender Ball hatte sich in der Mulde ihrer Handflächen eingenistet.

Licht.

"Hat sie tatsächlich einen Sonnenstrahl eingefangen?", schnappte Onyxia nach Luft. Lithium gab keine Antwort, sondern beobachtete nur, wie das Mädchen mit der anderen Hand nach etwas griff.
Ein schwarzer, glitzernder Schleim klebte an ihrer Hand.

Dunkelheit.

Mysteria schloss beide Hände, als hätte sie ein Glühwürmchen eingefangen. "Sie fusioniert Licht und Dunkelheit. Sie sieht es als ein einziges Element", flüsterte Lithium.

Der Nebel kletterte, wie eine Ranke an ihrem Körper hoch, an ihren Beinen, an ihrem Bauch, bis hin zu ihren Armen und verweilte an ihren Handgelenken. Es sah aus, als hätte sie zwei Armreifen angezogen.

Wasser, das zweite Element.

Wie hypnotisiert trat Mysteria mit langsamen Schritten auf die Kerze zu und hielt ihre Hände an die zuckende Flamme. Sofort wurde die Flamme grösser und bildete einen Ring ihm ihre Hände.

Mit dem vierten Element, Feuer, lief Mysteria weiter.

Lithium und Onyxia folgten ihr und sahen, dass sie sich auf einen niedrigen Ast einer Weide setzte.

"Was macht sie da?", flüsterte Lithium. Onyxia zuckte ratlos mit den Schultern. "Vielleicht kommt jetzt das letzte Element dazu: Der Geist. Also meditieren wird das bestimmt nicht."
Lithium rollte mit den Augen. "Na, immerhin besser als, wie eine betrunkene Fledermaus senkrecht von einem Baum zu hängen! Zumindest hat Nonna es immer so ausgedrückt", grinste sie.
Onyxia knuffte sie leicht. "Nonna sagte auch, dass du wie ein behinderter Affe gesungen hast!" Daraufhin verfärbte sich Lithiums Gesicht knallrot. "Lass das! Schauen wir lieber, was sie macht!" Gespannt warteten die Zwillinge, was passieren würde.

Lange Zeit geschah nichts. Dann schloss Mysteria die Augen und die magische Aura, die in der Luft lag, als wäre es fliegender Staub in einem alten Haus, verschwand, als wäre jemand mit dem Swiffer gekommen.

Mit der Aura verschwanden auch die Elemente, als hätten sie nie existiert.

Mysteria fühlte, wie das Etwas sich entfernte. "Geh nicht", dachte sie, doch es nützte nichts. Es war fort. Sie beschwor sich nochmal das Gefühl herauf.
Das Gefühl nach Heimat und Freiheit, nach Liebe und Sehnsucht.
Das Gefühl ihren Platz in der Welt gefunden zu haben.

"Mysteria?", fragte eine leise Stimme. Blinzelnd öffnete sie Augen und sah sich erstaunt um. Beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren und wäre vom Ast gekippt. "Moment, wie bin ich auf den Ast gekommen?!", dachte sie. Ihre Finger schlossen sich zu einer Faust, wobei sie bemerkte, dass sie etwas in ihrer rechten Hand hielt. Als sie die Hand öffnete, glänzte ihr ein Anhänger entgegen.

"Du darst wieder Fragen stellen", riss Onyxia sie aus ihren Gedanken.
"Wie bin ich von dort hierher gekommen?", fragte Mysteria und ihre innere Stimme schlug sich an die Stirn.

"Von allen Fragen dieser Welt - Natürlich ist es am Wichtigsten, zu wissen, wie man das teleportieren lernt!", spottete ihre Stimme.

Auch die Zwillinge grinsten. "Am besten", sagte Onyxia, "gehen wir nach Hause und beantworten dort alle Fragen."
Mysteria hob die Augenbrauen, aber nickte.

Als sie dem Wald den Rücken zukehrten, sah er unberührt aus. Als wäre es ein ganz gewöhnlicher Morgen, wie jeder andere. Als würde in diesem Wald Pfadfinder hausen und Hunde herumtollen. Als würde dieser Wald zu einem ganz gewöhnlichem Naturbild dazugehören.

Als wäre es eine ganz gewöhnliche Welt.

Die Chroniken der SchattenwesenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt