10 ~ Bekannte Gestalten

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Valentin erwies sich als guterzogener Hausherr. Er brachte Mysteria ins Gästezimmer im zweiten Stock und versorgte ihre Bisswunde.
"Was war das?", fragte er, als er sich ihren Arm ansah.
"Ein Idiot von Caelio", antwortete Mysteria wahrheitsgemäss und wünschte sich, sie könnte dem Caelio schlagen, während sie wieder an ihre Wahnvorstellungen dachte. Valentin nickte nur. "Wieso willst du nicht zu den Sacretti?", wechselte er das Thema und befestigte den schneeweissen Verband.
Mysteria schwieg und er seufzte.

Am Abend stellte er ihr ein Tablett mit Esswaren auf einen Eichentisch und Mysteria lächelte ihn zum ersten Mal an.

Am nächsten Morgen wachte Mysteria früh auf. So früh, dass der Himmel immer noch dunkel und das sonst eher lebendige Haus ganz still war.

Den Rest des gestrigen Tages hatte Valentin sie mehr oder weniger in Ruhe gelassen, hatte aber eingewilligt, dass sie bleiben durfte.
"Dieses Haus ist ohnehin zu gross, um alleine zu leben. Warum dann nicht eine Mitbewohnerin?", hatte er gesagt und gleichgültig mit der Schulter gezuckt. Er hatte keine Ahnung, wie dankbar sie ihm war.

Mysteria stand auf und zog sich ein Kleid an, dass Valentin ihr besorgt hatte. Sie mochte Kleider, obwohl sie nicht erklären konnte warum.
Still und heimlich verliess sie das Haus und schlug ungefähr den Weg zu ihrem abgebrannten Zuhause ein, den sie noch in Erinnerung hatte.
Sie murmelte einige Wörter und schon wusste sie den Weg.

Das ehemals grosse Haus liess eine schmale Rauchfahne in der Luft entgleiten.
Es roch verkohlt und Mysteria wusste nicht, was genau sie noch hier tat.
Sie trat zwischen den eingestürzten Balken in das Haus. Asche rieselte auf ihre Haare und hinterliess dunkelgraue Flecken auf ihrer Haut.
"Eine Taschenlampe wäre auch keine schlechte Idee gewesen", dachte sie.
Wie auf Kommando erhellte sich etwas unter dem dunklen Stoff des Kleides.
Der Anhänger, den Mysteria seit sechs Jahren trug, leuchtete so hell, dass es dem verbrannten Raum genug Licht spendete, um zu sehen. Überall auf dem Boden war Schmutz, Asche und hier und da sogar Scherben.
Alles im Haus war zerstört, doch Mysteria erinnerte sich an das schwarze Buch.
Sie musste lange suchen, bevor sie das Buch der Schatten gefunden hatte.

Ihr letztes Erinnerungsstück.

"Myssie", hörte sie.
Ein Flüstern, tausendfach wiedergegeben, als wäre sie in einem grossen hellen Saal.
"Lithium?", fragte Mysteria vorsichtig. Ein Lufthauch streifte ihre Wange, doch als sie sich umsah, war da niemand.
Sie trat an den Spalt, wo sie hindurchgeschlüpft war. Dort sah sie drei milchige Gestalten, kaum mehr als ein Schimmern in der Luft.

Ihre Familie.

Da waren sie, Lithium, Onyxia und Pike, vereint auf der Wiese. Sie lächelten.
Lithium und Onyxia hielten sich an den Händen und gaben mit ihren freien Händen einen Luftkuss.
Pike winkte ein letztes Mal bevor sie verschwanden und Mysteria die Tränen kamen. Die nicht gekommene Traurigkeit überrollte sie so heftig, als wäre sie mit voller Geschwindigkeit gegen eine Wand gerannt.
Leise schluchzend liess sie sich auf den schmutzigen Boden nieder.

Stattdessen erklingt sein Schrei: Ich habe alles verloren...

Die Chroniken der SchattenwesenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt