25 ~ Recklessia

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Der wolkenlose Himmel spannte sich über ihnen aus und liess die Sonne in ihrer ganzen Pracht scheinen.
Sie sah lachende Kinder und glückliche Familien. In einem riesigen Gewölbe waren sie und fingen die kleinen Vögel, die um sie herum schwirrten. Erst als ein Mädchen ihre kleinen Finger öffnete und ein flatterndes Geschöpf davon schweben liess, erkannte Mysteria, dass es keine Vögel waren.
Es waren kleine Elfen.
In einem goldenem, zart schimmerndem Licht, flogen sie um die Köpfe der begeisternd lachenden Kinder herum, die ihre Arme nach ihnen ausstreckten und fangen wollten.
Die Luft war erfüllt von Marktrufen, dem Kinderlachen und dem Gesang eines nahe stehenden Sängers, der auf einem seltsamen Instrument spielte, dass einer Gitarre sehr ähnlich sah.

Plötzlich verdunkelte sich der Himmel und einige Leute unterbrachen ihr Treiben, um nach oben zu sehen, verwundert, über den abrupten Wetterwechsel.
Es waren aber keine Wolken zu sehen. Stattdessen war der Himmel schwarz von Raben. Hunderte von Raben krächzten und flogen über die Häuserdächer der schreienden Bewohner.
Der grösste Rabe hatte ein blutrotes Gefieder und sein Krächzen erinnerte an ein hämisches Lachen.
Mütter packten ihre Söhne und Töchter, verfrachteten sie ins Haus, während Männer sich gegenseitig etwas zu brüllten und die Häuser verriegelten.
Kurz danach kamen sie.

Scharrenweise Ritter in weissen Rüstungen und Fackeln in der Hand.

Die ersten Rebellen des Landes.

Valentin wandte den Kopf weg und blinzelte mehrere Male hintereinander. Erst wollte Mysteria protestieren und durch die Überraschung normalisierten ihre Augen sich wieder. Das Leuchten hörte auf und erst da bemerkte sie, dass Valentins Augen tränten und rot angeschwollen waren.
"Ria, du bist eine Estrapoll. Irgendwann schadet mir dein Zauber!", sagte er, als er ihren Gesichtsausdruck sah. Sofort senkte sie den Blick. "Tut mir wirklich leid. Ich wusste nicht, dass..."
"Ist schon okay", sagte er und winkte ab. "Wirklich, es ist in Ordnung."
Mysteria sagte nichts mehr, war aber ganz anderer Meinung. Natürlich bemerkte er es und seufzte. "Es geht mir wirklich gut!", beharrte er. "Okay", war die einzige Antwort, die er bekam.
"Du solltest schlafen gehen. Morgen beginnen wir mit deiner Ausbildung", sagte er sanft und lächelte.
Mysteria strahlte und unarmte ihn. "Danke!"
Er lachte, während sie nach oben verschwand, gespannt auf den nächsten Morgen wartend.

"Die Anderen sind dir zwar schon um einige Jahre voraus, aber das spielt keine Rolle", sagte Valentin. Sie standen beide auf der Wiese und warteten auf "einen ganz besonderen Gast", wie Valentin es geheimniskrämerisch verkündet hatte. Daraufhin konnte Mysteria nur die Augenbrauen hochziehen.
"Wann beginnt man mit einer Ausbildung?", fragte sie verlagerte ungeduldig abwechselnd das Gewicht auf ihre Beine.
"Mädchen beginnen mit sieben Jahren. Jungs erst mit zehn."
"Wieso nicht gleichzeitig?" Erstaunt sah sie Valentin an. Dieser grinste frech und erwiderte: "Na, irgendeine Chance müsst ihr Mädels doch auch haben!"
"Hey, nicht so frech, Vale!", erklang eine dritte, amüsierte Stimme. Eine junge Frau trat auf sie zu. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz hochgebunden und anschliessend geflochten. Die tannengrünen Augen sahen Mysteria neugierig an.
Die Kleider erinnerten sie jedoch an Lithium und Onyxia und ein schmerzhafter Stich durchfuhr ihr Herz.
"Schön dich zu sehen, Lessi!", sagte Valentin und klatschte sie ab.
"Lange nicht mehr gesehen!", sagte sie lachend.
"Ria, dass ist Recklessia. Sie wird dich - neben meiner Wenigkeit - unterrichten. Ihr zwei werdet fünf Mal die Woche trainieren. Einen Tag verbringst du mit mir", erklärte Valentin. "Am letzten Tag des Monats gibt's einen Bewertungstag, an dem wir deine Fortschritte festhalten und gezielt deine Schwächen eliminieren können."
"Schön dich kennen zu lernen, Ria", sagte Recklessia.
Ria knickste kurz. "Ganz meinerseits."
"Wo hast du sie denn aufgegabelt? Manieren vom Feinsten hat sie", sagte Recklessia und sah Mysteria anerkennend an.
"Musste ich gar nicht, sie ist zu mir gekommen", sagte er. Man sah der blonden Schönheit an, dass sie ihm nicht wirklich glaubte, ging aber nicht weiter auf das Thema ein. Stattdessen musterte sie Ria von oben bis unten. "Du brauchst andere Kleider. So kannst du bestimmt nicht kämpfen!", stellte sie fest. "Aber ich denke, dass kriegen wir hin." Sie lächelte Mysteria an, bevor sie alle ins Haus gingen.

"Mädchen, hast du auch irgendetwas modernes?", rief Recklessia keine fünf Minuten später aus, als sie vor dem grossen Eichenschrank stand. "Sie wollte keine anderen Klamotten", meinte Valentin, der lässig am Türrahmen lehnte. Recklessia drehte ihren Kopf und sah ihn entsetzt an. "Du willst mir doch nicht etwa sagen, dass du die Kleider besorgt hast?"
Die stille Antwort war nur ein gelangweiltes Schulterzucken.
"Ich glaub's nicht!", stöhnte sie und sah wieder in den Schrank. "Ich habe noch etwas anderes", murmelte Mysteria leise. Fragend sah Recklessia sie an und Valentin hob die Augenbrauen. Ein kurzer Blick in ihre Augen hatte sie schon verraten, denn seiner fragenden Miene machte der Erkenntnis Platz. Die Jüngste von den Dreien stand von dem Hocker auf, auf dem sie gesessen hatte und lief zum Schrank. Sie kramte eine weisse, leicht zerfranste Tasche hervor und öffnete sie. Recklessia ging in die Hocke und sah sich die Kleider an. Ein Sweatshirt mit Dreiviertel-Ärmel, eine Weste Handschuhe, die an den Fingern frei waren, eine Brosche und Leggins waren drin.
Allesamt schwarz.
Verwundert nahm Recklessia die Brosche und musterte diese genau. "Von wo hast du die?", fragte sie. "Gehörte meiner Mutter", antwortete sie schlicht.

Jahre vor dem Brand hatte sie die Tasche versteckt und geheim gehalten. Als sie mit Pike in der Stadt herumliefen, war ein Junge ihnen in den Weg getreten. Mysteria war sich sicher, dass er vom ärmeren Teil kam. Seine Kleider hatten Risse und waren schmutzig. Unter den Nägeln hatte sich ein schwarzer Rand gebildet. Schuhe trug er keine und er sah dünn aus. Trotz der Armut hatte er eine Tasche dabei, die sehr neu aussah. "Hier, ich soll dir das geben", hatte er gesagt und verschwand darauf gleich wieder, nachdem Mysteria ihm etwas Geld gegeben hatte. "Was ist drinnen?" Neugierig beäugte Pike die Tasche. Mysteria öffnete den Reissverschluss und zum Vorschein kamen die Kleider und die Brosche. Ein kleiner Zettel lag auch drinnen. Inhaberin: D. Woodrow, Heartless.

"Passen sie dir?", unterbrach Recklessias Stimme die Erinnerung. "Ich weiss es nicht. Ich habe sie noch nie angezogen", gestand Mysteria. Schon hielt die Kleider in den Armen. "Na, dann, auf!", scheuchte die Blonde grinsend.

Mit einem leisen Zischen und einem lauten klonk, bohrte sich das Messer tief in das Holz. Zweifelnd sah Ria – sie hatte beschlossen sich nun so zu nennen – das Messer in ihrer Hand an. Damit sollte sie nun etwas treffen? Ziemlich unwahrscheinlich. Die Kleider ihrer Mutter passten ihr, wie angegossen. Die schwarze Brosche hatte sie jedoch in der Tasche gelassen.
Recklessia konnte mühelos eine Waffe werfen. Bei ihr sah es so leicht aus. Aber sie war Ria auch um etwa neun Jahre voraus. Schon beim ersten Wurf bemerkte Ria, dass es viel schwerer war, einen bestimmtes Ziel zu treffen, als das Messer sonst irgendwo hinzuschmeissen. "Das ist einer der ersten Dinge, die wir lernen", sagte Recklessia. "Halte das Messer mal an der Klinge und wirf noch einmal." Recklessia hielt die Klinge in einem festen Griff. Mit einer aggressiven Bewegung ihres Armes flog das Messer senkrecht rotierend in der Luft und mit einem weiteren klonk steckte es im Holz fest.
Ria versuchte es noch einmal. Der Wurf war zu sanft und hatte zu wenig Schwung, wodurch das Messer das Ziel nicht einmal traf. Beim nächsten Mal traff sie das Brett, aber nicht das Ziel.
Erst nach gefühlten 1'000'000'000'000'000'000'000 Malen schaffte sie es doch das Ziel zu treffen. Recklessia jubelte und klatschte Ria ab.

Am Abend fiel Ria ins Bett und blieb liegen.
Nach dem Messerwurf hatte sich noch joggen, einen Hindernisparcours, wieder Messerwerfen, joggen, Hindernisparcour, usw. machen müssen. Jede halbe Stunde wurde gewechselt.
Als die beiden zurück kamen, wäre sie fast beim Essen eingeschlafen, woraufhin Valentin amüsiert verordnet hatte, dass sie gleich ins Bett gehen sollte.
Und das tat sie auch.

Sie hoffte nur, dass sie keine frühreren Erinnerung träumte.

Die Chroniken der SchattenwesenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt