9. Kapitel

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Ich stolpere auf Kenneth zu. Er hat sein Gesicht in den Händen vergraben, die Knie angewinkelt und sein Körper wird von den Schluchzern regelrecht durchgeschüttelt. Ich ertrage es nicht, ihn so zu sehen. Sein Schmerz bricht mir das Herz.
Endlich falle ich neben ihm auf die Knie und kann seinen bebenden Körper in meine Arme ziehen. Meine Tränen tropfen stetig in seine Haare, während ich mein Gesicht in ihnen vergraben habe und sinnlose Worte flüstere, die ihn beruhigen sollen.
Kenneths Hände halten meine Hüfte in einem eisernen Griff gefangen und er schluchzt gegen meine Brust. Meine Arme sind locker um ihn geschlungen und meine Hände streichen ruhig und gleichmäßig über seinen Rücken, obwohl in mir alles zerbricht.
Endlich scheint er etwas ruhiger zu atmen. "Liebling, Kenny, mein Schatz. Shh. Ich bin doch hier, siehst du, Helen ist hier. Was ist los?", flüstere ich sanft in seine Haare. Kenneths Griff verstärkt sich nur und er wiederholt meinen Namen immer wieder. Ich streiche durch seine Haare, aber er schüttelt meine Hände weg.
"Ich b-b-bin so-o schm-utzig. So e-ekelhaft. Ü-überall sind ih-ihre Hände und ihre L-lippen!" Dann schlägt er die Hände erneut vors Gesicht und weint verzweifelt. Ich streiche zart über seine langen Finger, ziehe dann leicht seine Hand von seinem Gesicht weg und drücke sanfte Küsse gegen seine Fingerspitzen.
"Kenny, Liebling. Shh. Es ist okay, du bist okay", er unterbricht mich mit einem verzweifelten 'nein!' und ballt seine Hände zu Fäusten, "Shh. Wir kriegen das wieder hin, vertrau mir. Shh, ich pass doch auf dich auf. Hör zu, du ziehst jetzt deine Badehose an und dann duschen wir dich, okay?"
Das bringt Kenneths Schluchzer schlagartig zum Verstummen und er schaut mich verwirrt mit großen Augen an. Ich sehe die Hoffnung in seinem Blick. Dann stehe ich auf und überlasse es den anderen drei, Kenneth umzuziehen.
Kaum habe ich mich umgezogen, klopft es an der Badezimmertür.
Ein verweinter, immer noch gelegentlich schluchzender Elf in Badehose kommt mit gesenktem Blick und zitternden Fingern herein. Er schaut hoch und ich sehe in seine hoffnungsvollen, geröteten Augen. Dann kommt er ein paar Schritte auf mich zu und legt seine Hände auf meine Hüften, während sein Blick über meinen Körper wandert.
"Du bist hübsch", flüstert Kenneth, wird rot und ich fühle mich an unser erstes Kennenlernen erinnert.
Seine vollen Lippen sind leicht geöffnet. Plötzlich will ich nur noch in seine Arme und prüfen, ob seine Lippen wirklich so weich sind, wie sie zu sein scheinen. Es muss wundervoll sein, ihn zu küssen. Aber das wird Blondie im Gegensatz zu mir immer wissen, denke ich bitter und schaue weg.
Anstatt zu antworten, nehme ich also seine zitternde Hand und ziehe ihn mit mir in die große, ebenerdige Dusche. Sobald ich das Wasser anstelle, flüchtet Kenneth in die entfernteste Ecke, jedoch ohne meine Hand loszulassen, um die sich seine Finger verkrampfen.
Erst als das Wasser die in seinen Augen perfekte Temperatur erreicht, und auch nur mit viel gutem Zureden, kann ich ihn wieder von dort hervorlocken und er stellt sich zu mir unter das warme Wasser.
Die Nässe drückt Kenneths unzähmbaren Haare nach unten, einige Tropfen bleiben an seinen Wimpern hängen und ich verfolge die Wassertropfen mit den Augen auf ihrem Weg an seinem Oberkörper hinunter.
Sobald ich das Wasser ausstelle, umgibt uns wieder drückende Stille. Mit Tränen in den Augen schaue ich hoch und streiche ihm einige Strähnen von der Stirn. Er hebt langsam den Arm, der nicht meine Hand festhält, und wischt zärtlich die Tränen von meiner Wange. Sofort lässt er die Hand aber wieder fallen und starrt auf das Wasser, das gerade im Abfluss versickert.
Ich halte ihm den eingeseiften Schwamm hin und sage leise: "Hier. Magst du das selber machen, oder soll ich das für dich tun?" Kenneth antwortet nicht gleich, sondern schaut zunächst nur den Schwamm an. Ich werde unsicher und meine Hand zittert. "Ich dachte mir, wir können die Erinnerungen abwaschen. Dich von der negativen Erfahrung befreien. Wie vom Dreck."
Mein Lächeln ist sehr schwach, als Kenneth meine Finger um den Schwamm schließt. "Du, bitte. Aber ohne Schwamm." Seine Stimme ist so leise, dass man es kaum als Flüstern bezeichnen kann, aber ich habe seine verzweifelt klingende Bitte gehört und nicke ihm aufmunternd zu.
Ich greife nach Kenneths Arm und er hält ihn ausgestreckt vor mir, sodass ich ihn mit vorsichtigen Händen waschen kann. Anschließend führe ich seine Hand zu meinem Mund und drücke einen leichten Kuss auf seinen Handrücken. Dasselbe mache ich mit dem anderen Arm und die Spannung weicht langsam daraus.
Es bringt mich beinahe um den Verstand, seine bloße, warme Haut zu berühren und dabei zu wissen, dass er nicht mir gehört. Ich schlucke meine Tränen herunter. Nicht darüber nachdenken.
"Dreh dich bitte um", sage ich leise, aber Kenneth starrt mich an und zerquetscht beinahe die Hand, die er immer noch mit seinen Fingern umschlungen hält. "Liebling, vertrau mir. Ich verletze dich nicht. Versprochen." Zögerlich dreht der Norweger sich um, allerdings lässt er meine Hand partout nicht los.
Sobald ich meine freie Hand auf seinen Rücken lege, verkrampft Kenneth sich total und ich sehe, wie sich die angespannten Muskeln unter seiner Haut bewegen.
"Kenny, Liebling. Alles ist gut, ich bin doch da. Ich pass auf dich auf."
Langsam entspannen sich die Muskeln und ich kann Kenneths Rücken weiter einseifen. Sobald ich mit den Schultern fertig bin, trete ich einen Schritt näher zu ihm und lege meine Lippen auf sein linkes Schulterblatt, während meine Finger langsam über seinen unteren Rücken streichen. Diesmal spannt der Norweger nur seine Hand an, sodass er meine Finger fester umklammert.
Stück für Stück wandern meine Lippen über die warme Haut, unter der ich jeden einzelnen Muskelstrang fühlen kann, zum rechten Schulterblatt. Erst als Kenneth vollkommen entspannt ist, lasse ich zu, dass er sich wieder umdreht. Nun lässt er meine Finger los, um seine Hände an meine Taille zu legen.
Meine Fingerspitzen tanzen sanft über seinen Oberkörper, bis sie auf seinem Bauch zum Ruhen kommen. Die Sicherheit, die Kenneth mir gibt, durchflutet mich mit einem Mal und mir wird so schwindelig, dass ich meinen Kopf gegen seine Brust lehnen muss. Sobald die ersten Tränen über meine Wangen rollen, zieht Kenneth mich näher an sich und legt seine Arme beschützend um mich.
"Liebes, bitte weine nicht", flüstert Kenneth mit belegter Stimme, "es tut mir so leid! Ich weiß nicht, warum ich das getan habe. Es gibt einfach keine Entschuldigung. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Es hat mich einfach abgelenkt und das hab ich in dem Moment gebraucht...aber es war so falsch!"
Er scheint alles gesagt zu haben, was er loswerden wollte, aber ich weiß nichts darauf zu erwidern.
Ich schaue hoch und blicke in seine tiefen blauen Augen. Dann lege ich meine Hände an Kenneths Wangen, wovor er kaum zurückzuckt. Ein kleines Lächeln schleicht sich auf meine Lippen, während ich Kenneths Haare wasche und auch ganz zärtlich über seine hohe Stirn und die definierten Wangenknochen streiche.
Wieder verspüre ich den Drang, mich einfach auf die Zehenspitzen zu stellen und Kenneth zu küssen, aber wieder schaue ich weg und beobachte stattdessen, wie der Schaum - und damit hoffentlich Kenneths Probleme - in den Abfluss fließt. Ich küsse leicht seine Wange und seine Stirn.
Ich zwinge mich schließlich, aufzusehen, und werde mit einem Lächeln inklusive tiefer Grübchen belohnt. "Wie fühlst du dich?", flüstere ich, "ist noch irgendetwas nicht in Ordnung?" Das Lächeln verschwindet ein wenig und meine Sorgen kommen zurück.
Kenneth nimmt meine Hand, streichelt kurz darüber und legt dann meine Fingerspitzen gegen seine Lippen. Oh. Ich fahre sanft ihre Konturen nach. Sie sind so voll.
Der Norweger schaut mich jedoch immer noch erwartungsvoll an und ich ziehe ihn näher zu mir und lege meine Hände auf seinen Bauch, bevor ich mich zu ihm hochlehne und ganz vorsichtig und leicht mit meinen Lippen über seine warmen, unglaublich weichen Lippen streiche.
Sofort reiße ich mich wieder los und wende mich ab. "Entschuldige", meint Kenneth und verlässt ohne ein weiteres Wort den Raum.
Denkt er etwa, er hat mich dazu gezwungen? Glaubt er, es hat mir nicht gefallen?
Wenn ja, dann irrt er sich aber gewaltig!
Ich muss lächeln bei dem Gedanken daran, wie perfekt sich Kenneths Lippen auf meinen angefühlt haben. Es hat ein Kribbeln in meinem ganzen Körper ausgelöst, als seine weichen Lippen meine für so einen kurzen Augenblick gestreift haben. Ich habe das Gefühl gehabt, zuhause zu sein, in Sicherheit und geborgen.
Aber jetzt ist das Gefühl verflogen, mit Kenneth aus dem Raum geflohen. Meine Brust ist wie zugeschnürt. Wieso ist er verschwunden? Es gibt nur einen guten Grund, und den will ich einfach nicht wahrhaben.
Ich beiße die Zähne zusammen, bloß nicht wieder anfangen zu weinen. Aber das ist so schwer.

Mein fliegender Held Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt