6. Kapitel

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Frohe Ostern :)

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Ich weiß nicht, wie lange ich da liege, mit meinem Kopf in dem Kissen vergraben, das noch leicht nach Kenneth riecht. Wir haben uns noch nie gestritten. Ich seufze. Hoffentlich passiert es auch nie wieder, denn ihn so verletzt zu sehen, tut mir richtig weh. Es ist, als wäre meine Brust zusammengeschnürt und jemand schlägt mir in die Magengrube. Mir wird schlecht bei dem Gedanken an seine wütende Stimme. Ich sehe immer noch seine blauen, traurigen Augen vor mir, als es an der Tür klopft.
Ich will nicht aufstehen, ich will niemanden sehen und vergrabe mein Gesicht tiefer in Kenneths Kissen. Die Tür geht auf und ich spüre, wie die Matratze sich neben mir ein wenig absenkt. Eine Hand legt sich auf meine Hüfte, aber ich schiebe sie weg. Plötzlich werde ich mit einem Ruck hochgehoben, bis ich auf dem Schoß von einem besorgten blonden Norweger sitze. Ich will aufstehen, aber Anders schüttelt bestimmt den Kopf.
"Ihr habt euch gestritten, oder?"
Ich nicke leicht.
"Kenneth ist so wütend, er fährt jeden an, der mit ihm reden will. Und Tom hat er richtig zur Schnecke gemacht, weil er sich mal wieder einen Scherz erlaubt hat. Aber gleich danach war er richtig traurig und hat sich im Bus ganz hinten in die Ecke gesetzt. Er lässt keinen an sich ran", erzählt Anders mir leise, "euer Streit scheint dich aber auch ganz schön mitzunehmen, hm?"
Er streicht sanft über meinen Rücken. Ich nicke nur, weil ich nicht wirklich darüber reden will. Anstatt nachzuhaken, steht der kleine Norweger auf und zieht mich mit sich hoch.
Die anderen warten schon im Teambus. Ich setze mich zwischen Danny und Anders, Kenneth würdigt mich keines Blickes.
Der Flug und die Fahrt zu unserem Hotel in Zakopane verläuft eigentlich ganz friedlich, wenn man davon absieht, dass ich mit niemandem reden will und Kenneth jeden anfaucht, der ihm zu nahe kommt.
Am frühen Nachmittag beginnen die Probesprünge. Ich stehe mit Alex oben auf dem Trainerturm und filme, er winkt natürlich die Springer ab.
Zuerst kommt Tom und springt eine ganz passable Weite, genauso wie Andreas und Joachim nach ihm. Anders schwankt ein wenig in der Luft, kann sich aber auch über den K-Punkt retten. Johann und Danny haben beschlossen, die Probesprünge auszulassen, deswegen kommt jetzt Kenneth als der letzte unserer Athleten.
Selbst auf die Entfernung sehe ich, wie verkrampft seine Finger den Balken umklammern. Beim Absprung überkreuzen seine Ski noch viel stärker als sonst und er verliert schon im ersten Drittel seine Körperspannung, sodass er sich nur mit aller Kraft in der Luft halten kann und bei neunzig Metern landet. Mir ist fast das Herz stehengeblieben, als es für einen Moment so ausgesehen hat, als würde er abstürzen.
"Was war das denn?!", flucht Alex neben mir.
Der zweite Probedurchgang läuft nicht viel besser. Anders kann sein Flugsystem unter Kontrolle halten und springt nochmal ein paar Meter weiter, aber bei Kenneth ist kaum Spannung da und obwohl er aggressiv springt, kommt er nur knapp über die 95-Meter-Markierung. Sein Unmut ist ihm deutlich anzumerken, als er die Ski zusammenknallt und die Brille herunterreißt. Was ist nur mit ihm los?
Alex schaut mich ernst an. "Du gehst jetzt da runter und klärst euren Streit, okay? Die Quali fängt in einer halben Stunde an, da können wir uns solche Patzer nicht erlauben. Das weißt du genauso gut wie ich", meint er dann streng und ich mache mich auf den Weg ins Springerlager.
"Wo ist Kenneth?", frage ich Lars, der mich kopfschüttelnd ansieht. "Hat sich in der Umkleide versteckt. Bist du sicher, dass du dir das antun willst? Er ist echt zickig", meint er.
Ich antworte ihm nicht, sondern betrete leise die Umkleide, wo ich meine Jacke ausziehe, und setze mich dann neben den schluchzenden, zitternden Elfen, der zusammengekauert in einer Ecke hockt.
"Geh weg! Wieso könnt ihr mich nicht einfach alle in Ruhe lassen?", meint er dann wütend, ohne überhaupt aufzusehen. Ich hocke mich vor seine angewinkelten Knie und fasse vorsichtig nach seinen Händen, hinter denen er sein Gesicht versteckt. Er will sich wehren, greift dann aber nach meinen Händen, die er fest umklammert hält, und schluchzt: "Helen. Wieso bist du hier?"
Ich streiche leicht über seinen Handrücken, bevor ich seine Finger loslasse, wogegen er sich wiederum wehrt. Ich knie mich zwischen seine Beine und vergrabe meine Hände in seinen Haaren, während er seinen Kopf gegen meine Brust lehnt und seine Arme um meine Taille legt.
"Shh, Liebling. Was ist los? Alex macht sich echt Sorgen wegen den Sprüngen. Und ich mir auch. Ist es wegen unserem Streit?", wispere ich in seine weichen, zerzausten Haare, aber es beruhigt den weinenden Elfen ganz und gar nicht. Stattdessen erschüttern nur noch heftigere Schluchzer seinen schmalen Körper und seine Finger krallen sich in meiner Hüfte fest.
"Du bist bestimmt wahnsinnig enttäuscht von mir", weint Kenneth und ich drehe seinen Kopf zu mir.
"Jetzt hör mir mal zu", meine ich energisch und wische seine Tränen zärtlich weg, "du bist ein fantastischer Skispringer und mein bester Freund. Ich bin so stolz auf dich! Ich wäre auch stolz auf dich, wenn du nur zehn Meter weit springen würdest. Wir wissen doch beide, dass du viel besser bist! Irgendwas beschäftigt dich aber so sehr, dass du total unkonzentriert bist." Ich streiche ihm über seine weichen Haare und füge hinzu: "Rede mit mir darüber, Liebling."
Ich drücke ihm einen Kuss auf die Haare und atme seinen starken, warmen Geruch tief ein. Dabei streiche ich ganz vorsichtig über seinen Rücken, bis er sich ein wenig beruhigt hat.
Dann setzt er sich plötzlich aufrechter hin und zieht mich in seinen Schoß, sodass ich seitlich an ihn gelehnt sitze und meine Beine über sein rechtes Bein gelegt habe. Ich greife nach seiner Hand und spiele mit seinen Fingern, bis Kenneth anfängt, leise Worte in meine Haare zu murmeln.
"Liebes...es tut mir so leid", sagt er, aber ich unterbreche ihn: "Nein, nein. Es ist meine Schuld. Ich hab den Streit doch angefangen. Ich hätte dich nicht kritisieren dürfen...Ich..."
Kenneth legt mir einen Finger auf die Lippen.
"Shh, es ist nicht deine Schuld. Außerdem hast du vielleicht recht...Ich weiß nicht, ob ich sie überhaupt noch kenne."
Er nimmt meine Hand und drückt sie kurz, bevor er fortfährt. "Du wolltest nur mein bestes, und ich hab dich so angezickt. Es tut mir leid, Liebes, verzeih mir bitte."
Dann schaut er mich mit seinen großen, blauen Augen an und ich versinke mal wieder darin, bis er mich mit einem leichten Kuss auf meine Wange wieder ins Hier und Jetzt zurückholt.
Ich werde rot, sei es weil Kenneth mich dabei ertappt hat, wie ich ihn angestarrt habe, oder sei es weil er mich noch nie zuvor auf die Wange geküsst hat. Meine Haut kribbelt dort, wo seine Lippen gelegen haben, und mir wird ganz warm.
"Natürlich verzeih ich dir. Ich wollte doch auch nur, dass du glücklich bist", flüstere ich ihm zu und der norwegische Elf strahlt mich an und umarmt mich ganz fest während er sagt: "Siehst du, jetzt bin ich glücklich."
Ich lache befreit auf und mein Bauch kribbelt. Soll das heißen, dass ich ihn glücklich mache? Ich beiße mir auf die Lippe, bevor mir dir Frage rausrutschen kann. Ist wohl kaum der richtige Moment.
Stattdessen stehe ich auf und ziehe Kenneth mit mir hoch. Er sieht mich schief an und lacht dann: "Du hast immer noch meinen Hoodie an! Steht dir ja aber auch viel besser." Kenneth zwinkert mir zu und ich lächele ebenfalls. Sein Hoodie ist mir zwar viel zu groß, er reicht mir bis auf die Oberschenkel, aber er ist echt super bequem.
Ich krempele einen langen Ärmel hoch und schau auf die Uhr. So langsam müssen wir uns auf den Weg machen
"Los geht's, mein Elfchen! Die Quali wartet!"
"Elfchen?", erwidert Kenneth lachend und schaut mich amüsiert an. Ich werde wieder rot und verstecke mein Gesicht an seiner Brust, aber er ist gnadenlos und drückt mein Kinn mit seinem Finger hoch, sodass er mich ansehen kann.
"Uhm, also", druckse ich verlegen herum, "du siehst aus wie ein kleiner Elf. Vor allem deine Ohren. Und du kannst fliegen..."
Kenneth lacht und schüttelt den Kopf. "Du bist echt einmalig", flüstert er mir zu und zwinkert, bevor er in den Lift zur Schanze steigt.
Die Qualifikation läuft fantastisch. Tom, Andreas und Joachim sind unter den ersten zehn, dann kommen die Vorqualifizierten.
Anders hat seinen Sprung diesmal perfekt unter Kontrolle und landet ein paar Meter vor der Hillsize mit einem sauberen Telemark.
Danny winkt uns auf dem Trainerturm zu, bevor er sich abstößt. Vielleicht verleihen ihm die Einhörner ja Flügel, denn er landet sogar hinter der Hillsize. Auch Johann gelingt ein ähnlich weiter Sprung.
"Na, dann schauen wir mal, was du wiedergutmachen konntest", meint Alex zu mir, als Kenneth sich auf den Balken setzt.
Er stößt sich ab, der Absprung ist perfekt, die Ski überkreuzen sich kaum. Er ist hoch in der Luft, hat nicht das geringste Problem dabei, die Spannung zu halten, und gleitet die Schanze hinab. Er lässt sowohl den K-Punkt als auch die Hillsize hinter sich und landet dann mit einem Telemark, wie er im Buch steht. Bestweite!
Alex fällt mir um den Hals. Ich glaube, er ist echt erleichtert, dass es meinem Lieblingsnorweger wieder gut geht.
Nicht einmal Severin oder Peter, die jetzt noch kommen, können Kenneths fantastischen Sprung übertreffen.
Sobald wir unten am Auslauf sind, renne ich auf Kenneth zu. "Wusste ich es doch! Du bist unglaublich gut gesprungen!", rufe ich ihm zu und umarme ihn ganz fest, woraufhin er mich hochhebt und durch die Luft wirbelt.
"Wie ein Elf", meint er mit einem amüsierten Zwinkern und setzt mich vorsichtig wieder ab. "Wie ein Elf", stimme ich zu und Kenneth lacht.
Ich kann gar nicht beschreiben, wie froh ich bin, dass wir uns wieder vertragen haben! Denn jeder Moment, in dem Kenneth mich nicht so glücklich anstrahlt wie jetzt, ist ein vergebener Moment.

Mein fliegender Held Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt