35. Kapitel

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Ich werde langsam wach und merke, dass mein Freund halb auf mir liegt. Dann sehe ich hinüber zu meiner Uhr und mir wird klar, dass wir schon längst beim Frühstück sein sollten. Vermissen uns die anderen nicht, oder wieso hat uns niemand geweckt?
Die Frage erübrigt sich, als es an der Tür klopft und Lucas leise eintritt. Er grinst mich breit an, als er sieht, wie Kenny sich an mich kuschelt, und flüstert: „Ich dachte immer, Anders macht Witze.“ 
„Und ich dachte immer, Anders‘ Meinung ist nicht das Maß der Dinge“, erwidere ich und strecke meinem besten Freund die Zunge raus, während er nur mit den Schultern zuckt. 
Mein Lieblingsnorweger bewegt sich und blinzelt mich verschlafen an, dreht mich mit sich um, sodass ich letztendlich auf seinen Beinen sitze und zieht meinen Kopf sanft zu sich herunter, um mich zu küssen. 
Bisher war er noch nie so stürmisch und verlangend, aber irgendwie gefällt es mir und ich rutsche ein bisschen näher zu ihm. Überrascht beißt Kenneth leicht in meine Lippe und kurz darauf spüre ich auch, wieso. 
Ich bin erstaunt, dass ich so eine Wirkung auf ihn habe und sehe ihn einen Moment einfach nur an, während er meinen Blick fragend erwidert. Sobald mein Elf das Lächeln auf meinen Lippen sieht, küsst er mich erneut und legt seine warmen Hände auf meine Oberschenkel, um mich festzuhalten. 
„Ihr warnt mich aber bitte, wenn das nicht mehr jugendfrei ist, ja?“, meint Lucas und sorgt dafür, dass wir beide rot werden. 
Mein Freund setzt sich auf und legt seine Arme um mich, während ich mich zu dem Deutschen wende, der ganz entspannt an die Wand gelehnt auf dem Bett sitzt und mich scheinheilig anlächelt. 
„Geh zu Anders“, necke ich ihn, aber mein bester Freund verdreht nur die Augen und meint: „Genau deswegen bin ich ja hier. Ihr habt das Frühstück schon fast verschlafen, aber die Wettkampfvorbereitungen fangen in einer halben Stunde an. Und bevor Alex euch Tom auf den Hals hetzen konnte, auch wenn der ja sowieso mit Laura beschäftigt ist, hab ich versprochen euch zu holen. Und damit ich jetzt schnell zurück kann, muss ich euch wohl oder übel hier raus jagen.“
Zwanzig Minuten später kommen wir an der Schanze an. Der Wettkampf verläuft gut, genau wie der am folgenden Tag. 
Am Finaltag muss ich wirklich alles geben, um Kenneth zu beruhigen. 
Es fängt schon damit an, dass er in der Nacht zuvor kaum schlafen kann und sich immer wieder hin und her dreht, bis ich meine Arme von hinten um ihn schlinge und ihn festhalte, sodass er sich einfach nicht mehr freikämpfen kann. 
Nervös läuft er auf und ab, zuerst in unserem Zimmer, dann im Speisesaal und schließlich im Springerlager, obwohl er sich aufwärmen soll. 
Alex will mich mit auf den Trainerturm nehmen, aber ich winke ab und sage: „Wenn wir Kenneth nicht zuerst von seiner Anspannung wegkriegen, macht er noch alle verrückt und kriegt den Sprung nicht hin.“ 
„Du hast recht. Es sind zwar alle nervös, weil das immerhin das Finale ist, aber Kenneth stellt da alle in den Schatten. Meinst du, es liegt daran, dass er das erste Mal dabei ist? Oder eher daran, dass er Hayböck besiegen will?“, fragt der Cheftrainer mich besorgt, aber ich weiß es selbst nicht so genau. Diese Saison gab es einige große Events, bei denen Kenneth jedoch fast ausschließlich die Ruhe in Person gewesen ist. Dass es am möglichen Podestplatz liegt, finde ich da schon wahrscheinlicher, auch wenn ich gehofft hatte, dass der Ehrgeiz meines Freundes sich nach den Meisterschaften etwas gemildert hatte. 
„Ich rede mit ihm. Und wenn das nicht hilft, haben wir ja immer noch Lars“, überlege ich und Alex nickt. 
Irgendwie befürchte ich, dass es wirklich den Physio braucht, damit mein Freund wieder entspannt an den Wettkampf gehen kann. 
Und tatsächlich steht der blonde Norweger schon mit in die Hüften gestemmten Händen vor Kenneth, der beim Dehnen ungewöhnlich herumzappelt, wie es sonst unser Küken öfters tut. 
„…ein Österreicher, der deinem Talent bei Weitem nicht das Wasser reichen kann“, sagt er ruhig und legt Kenneth eine Hand an die Hüfte, was ihn dazu bringt, im Dehnen innezuhalten, „Dein Ehrgeiz steht dir gerade im Weg. Dir ist aber der Sport viel wichtiger, erinnerst du dich? Und nur wenn du dich darauf konzentrierst, kannst du auch die Leistungen abrufen. Bleib beim Sprung, und denk dann erst ans Podest, wenn du auch gelandet bist.“ 
Mein Lieblingsnorweger hat mich bemerkt und legt seinen Arm um meine Hüfte und seinen Kopf auf meine Schulter. Erleichtert merke ich, dass er schon viel entspannter ist und ruhiger atmet. 
„Ich bin stolz auf dich“, sage ich und küsse seine Stirn, während Lars mir grinsend seine Faust hinhält und meint: „That’s the spirit.“ 
Ebenfalls mit einem breiten Lächeln im Gesicht schlägt mein Freund mit seiner Faust gegen unsere und zieht mich dann rüber zur Hütte. 
„Jetzt muss ich mich aber wirklich mal aufwärmen, sonst wird das ein verkorkster Absprung“, lacht er, „Und du bist meine Trainerin, also hilf mir.“ 
Lachend schlage ich gespielt gegen seinen Arm und warne ihn: „Du hast Glück, dass ich wirklich deine Trainerin bin, du bist nämlich ganz schön frech.“ 
„Und du liebst mich“, erwidert mein Freund mit einem süßen Lächeln, bevor er dann wirklich ernsthaft mit dem Dehnen anfängt. 
Nach einigen Sprungimitationen schicke ich ihn zu den Jungs zum Volleyball und kann endlich hoch zu Alex. „Alles geregelt?“, fragt er mich und ich antworte erleichtert: „Ja, zum Glück. Lars hat geholfen.“ 
Je weiter der Wettkampf fortschreitet, desto aufgeregter werde ich jedoch auch selber. Sobald Kenneth dann nach einem relativ schwachen Sprung von Hayböck auf den Balken rutscht, kann ich verstehen, wieso er den ganzen Vormittag über so nervös gewesen ist. 
Umso mehr zittere ich, als Alex mir die Fahne hinhält, um meinen Freund runter zu winken. Seinen Sprung verfolge ich wie in Trance.
Erst als Alex mir lachend und gleichzeitig weinend um den Hals fällt, realisiere ich, dass Kenneths Traum gerade in Erfüllung gegangen ist. Er hat Hayböck besiegt. Er ist dritter im Gesamtweltcup. 
Quietschend springe ich auf und ab und beeile mich, zu meinen Jungs zu kommen. 
Tom ist der erste, der mir jubelnd um den Hals fällt: „Geeeewooooooonnen! Mein Team hat gewonnen!“ Ich grinse und streiche ihm einige von den blonden Strähnen aus dem Gesicht. Es ist einfach zu süß, wie Tom sich für seine Freunde freut. 
„Na, na. Wer wird denn da weinen“, grinst er mir zu und wischt eine Träne von meiner Wange, „Du kannst so stolz auf dich sein. Du hast Kennylein nämlich echt geholfen.“ 
„Das hast du wirklich“, höre ich Kenneth sagen und kurz darauf schlingt er seine Arme um meine Hüfte und dreht mich in seiner Umarmung um. Ich lege meine Arme um seinen Nacken und muss mich auf die Zehenspitzen stellen, um meinem überglücklich grinsenden Freund einen Kuss auf die Lippen drücken zu können. 
„Ich bin unglaublich stolz auf dich“, hauche ich gegen die Lippen meines Freundes und seine Grübchen vertiefen sich noch mehr.
Ich kann gar nicht anders, als auch zu grinsen, weil mein Lieblingsnorweger gerade einfach der glücklichste Mensch auf der Welt zu sein scheint. 
Vor der Siegerehrung muss Kenneth zwar noch einige Interviews geben, aber dann steht er endlich auf dem Treppchen und kriegt seinen Pokal überreicht, während ich Fotos von meinem strahlenden Freund mache, die ich dann später in unser Album einkleben kann. 
Nachdem auch das Team geehrt worden ist, wir ein großes Teamfoto gemacht haben und das Team im Container schon richtig für Stimmung gesorgt hat, macht Alex noch eine kleine Ansprache. Er ist ganz gerührt und bedankt sich bei allen Springern. 
Dann wendet er sich an mich, was mich total überrascht: „Und natürlich müssen wir alle Helen danken, dafür, dass du eine gute Freundin für unsere Athleten und eine Stütze für uns Trainer geworden bist. Einiges von der Teamleistung ist dir zuzuschreiben und das sollten wir nicht vergessen. Und deswegen habe ich mit Clas gesprochen und wir haben ein Angebot für dich: Wenn du dein Abi hast, würden wir dich gerne als permanentes Teammitglied haben. Aber die Details besprechen wir dann, wenn wir gefeiert haben!“ 
Das Team applaudiert mir und ich verstecke gerührt mein Gesicht in meinen Händen, während die Jungs mich einer nach dem anderen ganz fest umarmen. 
„Bitte, bitte sag ja“, fleht Anders mich lachend an und Joachim stimmt ihm zu: „Du bist echt wichtig hier, bitte bleib.“ 
Grinsend legt Lucas dem kleinen, blonden Norweger einen Arm um die Schultern und meint: „Ich würde dich auch so besuchen kommen.“ Daraufhin lacht das ganze Team mal wieder. 
„So Jungs, wir wollen heute auch noch feiern, also los: Aufräumen!“, unterbricht Alex das Herumgehüpfe, aber obwohl die Jungs seinem Befehl folgen, sieht das immer noch mehr wie Feiern aus. Und das haben sie sich ja auch redlich verdient, weshalb keiner von uns Betreuern irgendwie dazwischen funkt. 
Immer wieder umarmt mein Lieblingsnorweger mich oder drückt schnell einen Kuss auf meine Stirn, während er seine Sachen zusammenpackt und das Grinsen verlässt nie sein Gesicht. 
Als wir endlich zum Hotel zurück können, ruft er Alex schnell zu, dass wir zu Fuß gehen werden, und drückt Danny seinen Pokal in die Hand. Dann nimmt er meine Hand, wobei mir mal wieder auffällt, wie perfekt meine Hand in seiner liegt, und zieht mich langsam in Richtung des Hotels. 
Schweigend gehen wir nebeneinander her und genießen es einfach, dass gerade mal niemand unsere Aufmerksamkeit haben will. 
Irgendwann bricht mein Freund jedoch die Stille: „Die Saison ging so schnell vorbei. Ich weiß noch genau, wie viel Angst ich hatte beim ersten Springen. Ich wollte niemanden enttäuschen, und vor allem dich nicht.“ 
Sanft drücke ich Kenneths Hand und er redet leise weiter: „Ich hätte nie im Leben gedacht, dass ich das hier schaffe. Klar hab ich es mir gewünscht, dass ich gute Leistungen zeige. Aber bis vor ein paar Wochen habe ich gar nicht darüber nachgedacht, ob vielleicht ein Podestplatz drin ist. Jetzt darf ich schon meinen Traum leben und Ski springen, und dann kommt sowas…das war echt ein krasser Moment vorhin. Ich glaub es immer noch nicht.“ 
Ich bleibe stehen und lege meine Arme um die Hüfte meines Lieblingsnorwegers. 
„Du kannst so stolz auf dich sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendein anderer so gekämpft hätte, wie du. Du bist ein Vorbild für so viele. Und das war die verdiente Belohnung“, sage ich ehrlich und schaue hoch in Kenneths blaue Augen. 
Ein Lächeln breitet sich auf seinen Lippen aus und er küsst meine Stirn, bevor er meine Hände in seine nimmt und leise meint: „Ich liebe dich.“ 
„Nicht so sehr, wie ich dich liebe“, erwidere ich und streiche kurz mit meinen Lippen über seine. 
Die Saison hätte nicht besser enden können.

Mein fliegender Held Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt