29. Kapitel

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Anders' POV:

Es sind jetzt mehrere Wochen vergangen, seit wir Helen das letzte Mal gesehen haben. Ich glaube, es gibt niemanden, der sie nicht vermisst, aber natürlich ist für Kenneth alles am schlimmsten. Er liebt sie wirklich über alles und will nicht mal versuchen, die Trennung zu ertragen. Helen geht es genauso. Danny und ich versuchen, für beide immer da zu sein, aber manchmal ist das wirklich schwierig.
Als wir in Japan gesprungen sind, zum Beispiel, kam Kenneths Fieber zurück. Er wollte trotzdem springen, weil er meinte, dass er sonst auch bei Helen hätte bleiben können. Da war er echt trotzig und hat geschmollt, bis Alex nachgegeben hat und ihm erlaubt hat zu springen, wenn seine Körpertemperatur nicht zu hoch ist. Ich musste ihm versprechen, Helen nichts zu sagen, aber sie hat es trotzdem rausbekommen und war dann ganz schön von mir und Danny enttäuscht.
Im Vergleich zu der Standpauke, die ihr Freund sich anhören musste, war das aber nichts. Ich habe gehört, wie sie am Telefon geweint hat und ihn teilweise sogar angeschrien hat, weil er so unverantwortlich gehandelt hat. Ich konnte danach beide nicht so wirklich beruhigen. Helen war wie gesagt enttäuscht und Kenneth hat sich nur noch mehr Vorwürfe gemacht, weil seine Freundin sich dann natürlich Sorgen gemacht hat und das, obwohl er ihren Stresspegel nicht noch steigern wollte.
Trotz ihres Prüfungsstresses ruft Helen Kenneth fast jeden Tag an. Mit meinem Teamkollegen ist dann stundenlang nichts anzufangen, zuerst weil er damit beschäftigt ist, mit seiner Freundin zu telefonieren, und dann weil er noch ewig nachdem das Telefonat beendet ist auf einer rosa Wolke schwebt, er nur an Helen denkt und auch nur über sie redet.
Meistens tut er das mit Danny, der da wirklich ein super Freund ist, der immer zuhört.
Allerdings bevorzuge ich diese Momente während und nach den Telefonaten. Den restlichen Tag über ist Kenneth nämlich total in sich gekehrt, teilweise echt schlecht gelaunt und wirkt kraftlos. Über die Wochen ist es immer schlimmer geworden, so als würde die Trennung von seiner Freundin ihn auch physisch belasten. Vor Helen versteckt er es immer, weil er stark sein will, aber ich sehe, wie diese Fassade nach einer Weile von ihm abfällt und alles nur noch schlimmer ist, als vorher. 
Wenn ich mit Helen telefoniere, merke ich immer, wie nervös sie wegen den Abiturprüfungen ist. Obwohl sie jetzt schon zwei der drei schriftlichen Examen hinter sich hat, ist sie gestern in Tränen ausgebrochen, weil sie Angst hat, etwas wichtiges zu vergessen, und erst als ich Kenneth mein Handy gegeben habe, hat sie sich wieder einigermaßen beruhigt.
Gleichzeitig vermisst sie Kenneth. Jedes Mal, wenn einer von uns mit ihr skypt, sehe ich, dass sie Kenneths Sachen trägt. Letztens hat sie mir anvertraut, dass aber selbst das nachts die Albträume nicht mehr fernhalten kann. 
Vorgestern hat sie mitten in der Nacht angerufen und ihren Freund ganz aufgelöst gefragt, ob er beim Springen gestürzt ist, bis sie realisiert hat, dass es zwei Uhr morgens war. Das war das erste Mal in diesen Wochen, dass ich Kenneth wirklich weinen gesehen habe. Ich glaube, es bricht ihm das Herz, dass er sie nachts nicht in seinen Armen halten und beschützen kann. Danny ist sofort aufgestanden und hat seinen besten Freund in den Arm genommen, während er haltlos geschluchzt hat. 
Ein Klingeln aus der Richtung von Kenneths Laptop reißt mich aus meinen Gedanken und ich gehe hinüber, um auf den Bildschirm zu schauen.
Ein eingehender Skype-Videoanruf von Helen.
Ich beschließe, dass Kenneth es mir nicht übel nehmen wird, wenn ich ihren Anruf annehme, und klicke auf den Bildschirm, sodass das Gesicht der Deutschen erscheint. 
"Hællæ", lächle ich ihr zu und schaue sie dann das erste Mal richtig an. Ich schrecke zusammen. Ihr Gesicht ist von Tränen überströmt, ihre Finger krallen sich in die langen Ärmel von einem von Kenneths Pullovern und sie zittert am ganzen Körper, obwohl sie von zwei Armen, die ich Lucas, der nicht ganz zu sehen ist, zuordne, festgehalten wird. 
"Heli! Meine Güte, was ist passiert? Warum weinst du?"
Helen versucht tapfer, sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen, aber gleich darauf weint sie wieder los. Lucas zieht ihren Kopf enger an seine Brust und streicht ihr über den Rücken.
"Hey", sagt er leise zu mir, "Wo ist Kenneth?"
"Er ist gerade aufs Klo gegangen, er ist gleich wieder da", erwidere ich tonlos und rufe dann nach Kenneth, der sofort aus dem Bad gestürzt kommt.
"Was ist, Anders", meint er ein wenig genervt, aber sobald er den aufgeklappten Bildschirm und Helen sieht, schlägt seine Laune um und er schiebt mich zur Seite. 
"Liebes", flüstert er und Helen schaut mit verweinten Augen zu ihm hin, "Shh. Ich bin hier, schau. Versuch, ganz ruhig zu atmen. Kannst du das für mich machen?"
Er schenkt ihr ein kleines Lächeln, das Helen trotz allem automatisch erwidert. Lucas hält sie weiter fest, während sie das tut, was Kenneth gesagt hat. Endlich ist sie wieder etwas ruhiger, auch wenn sie von Zeit zu Zeit noch schluchzt.
"Elfchen", sagt sie tonlos und Kenneth lächelt wieder, auch wenn sein Gesicht schmerzerfüllt ist. Er will unbedingt bei ihr sein, das sehe ich ihm an. Seine Finger zittern, als er ihr Gesicht auf dem Bildschirm berührt.
"Wie geht es dir?", fragt Helen dann genauso leise wie zuvor. Kenneths Stimme klingt gebrochen, als er antwortet: "Ich vermisse dich. Aber das ist gerade nicht so wichtig, wieso hast du geweint, Kleines?"
Ich sehe, wie sein Blick unsicher zu Lucas wandert, der jetzt mehr im Bild sitzt. Dieser sieht besorgt und traurig aus, aber auch so, als würde er sich selbst Vorwürfe machen. Wieso nur?
"Heute war die letzte schriftliche Prüfung. Da war noch alles okay", sagt Helen und erneut scheinen sich Tränen in ihren Augen zu sammeln, "Aber dann kamen so e-ein paar Leute...sie haben D-dinge gesa-agt...ich w-weiß, das tun s-sie immer...a-aber die-iesmal..."
Ihre Stimme bricht und sie fängt wieder an zu weinen. Sie versteckt ihr Gesicht an Lucas' Brust und er drückt sie vorsichtig an sich.
Dann schaut er hoch zu Kenneth und fährt fort: "Sie haben gesagt, dass du sie nicht liebst, sondern nur benutzt. Dass du nur das eine willst. Dass du sie danach verlässt. Dass sie niemand jemals lieben wird, erst recht niemand wie du. Dass sie es gar nicht wert ist. Weil sie eine Außenseiterin ist und sie keine Freunde hat und niemand etwas mit so jemandem wie ihr zu tun haben will. Und dass sie es verdient hat, so behandelt zu werden."
Kenneth bleibt stumm und ich sehe, wie ihm Tränen über die Wange laufen und sich Hass und Wut in seinen Augen spiegelt. Seine Hände ballen sich zu Fäusten.
"Sie glaubt nicht, dass du so etwas tun würdest. Aber das andere...solche Dinge kriegt sie jeden Tag zu hören, aber noch nie so schlimm. Und vorher haben sie sie auch noch nie körperlich angegriffen."
"WAS??", ruft Kenneth jetzt aufgebracht und springt von seinem Bett auf, wobei er fast den Laptop umgestoßen hätte.
Ich fasse nach seinem Arm und drücke ihn zurück aufs Bett.
Er rauft sich die Haare und sein ganzer Körper bebt vor Wut.
"Sie...sie haben mich geschlagen. Lucas war nicht da, aber als er es erfahren hat, ist er mit mir ins...ins Krankenhaus gefahren. Und dann hat er die Schulleitung informiert", sagt Helen immer noch schluchzend und wendet sich dann an Lucas: "Es ist nicht deine Schuld."
Während Lucas dem widerspricht, wird Kenneths Gesichtsausdruck erst ganz weich, aber dann überzieht sein Gesicht eine noch größere Härte und Wut als zuvor. 
Als er mit Helen redet, hält er sich aber zurück und seine Stimme ist ganz liebevoll und vorsichtig: "Liebes, was haben die Ärzte gesagt?"
Helen dreht ihr Gesicht ganz zur Kamera und sowohl Kenneth als auch ich ziehen erschrocken die Luft ein. Ihre Rechte Gesichtshälfte ist von blauen Flecken übersät. Und als ob das noch nicht genug wäre, schiebt sie zuerst den Ärmel hoch, um blaue Flecken in Form von Handabdrücken zum Vorschein zu bringen und hebt dann den Pulli an, unter dem ein Verband sichtbar wird.
"Ich hatte Glück, die Rippe ist nicht gebrochen", flüstert sie mit belegter Stimme und diesmal geht Kenneth wirklich an die Decke und auch ich bin von Wut erfüllt.
Wie kann man einem so lieben, hilfsbereiten und klugen Menschen wie Helen nur so etwas antun? Sie hat nie etwas getan, außer dass sie eben sehr intelligent ist und nicht an oberflächlichen Freundschaften interessiert ist. Wieso wird gerade sie so sehr dafür bestraft? Sie hat einige Male erwähnt, dass sie es in der Schule nicht leicht hat, aber ich hätte nie gedacht, dass das so weit gehen würde.
Ich höre, wie Kenneth immer wieder vor sich hin murmelt "wieso nicht ich, wieso sie?" und streiche ihm vorsichtig über den Arm. Natürlich würde er lieber alle Lasten von Helens Schultern nehmen und sie ertragen, als seine Freundin leiden zu sehen. 
"Ich hätte es verhindern müssen, es tut mir leid", sagt Lucas,  als er sieht, dass Kenneth weint, und vergräbt sein Gesicht in den Händen.
"Es ist ganz sicher nicht deine Schuld", erwidert mein Teamkollege jetzt ganz ernst, "Ich weiß gar nicht, wie ich dir jemals dafür danken soll, dass du für sie da bist, obwohl ich derjenige sein sollte, der sie in den Armen hält. Es ist die Schuld dieser verdammten Schule, dass so etwas überhaupt passieren konnte!"
Ich nicke zustimmend und streiche weiter beruhigend über Kenneths Arm. So etwas hätte nie vorkommen dürfen. 
Helen hat sich gerade wieder beruhigt, aber ihr laufen immer noch Tränen über die Wangen, als sie sich an Kenneth wendet: "Du bist doch für mich da. Du hasst mich nicht für das, was passiert ist. Obwohl es genau das ist, was mir Angst macht, dass du mich verlassen wirst, und obwohl daher auch die Albträume kommen, zeigst du mir immer wieder das Gegenteil. Du darfst nicht wütend sein, die wurden schon suspendiert. Ich weiß, dass du auf mich aufpassen willst, Liebling, und ich wünschte du wärst hier. Aber das geht ja nicht, und trotzdem bist du irgendwie da. Das ist mehr wert als alle deren Worte, ja? Ich liebe dich."
"Du hast mich verdient", erwidert Kenneth mit zärtlicher Stimme und weichem Lächeln, "Du hast das ganze Glück der Welt verdient. Und keine Ängste oder Albträume wegen Aussagen, die total absurd sind. Gerade weil du so bist, wie du bist. Das ist die Wahrheit und nicht das, was ein paar Möchtegerns sagen, um cool zu wirken. Ich liebe dich."
Während Kenneth und Helen leise weiter liebevolle Worte austauschen, verlasse ich das Zimmer und gehe zu Alex. Es muss einen Weg geben, damit die beiden sich bald wiedersehen können, es muss einfach! 
Die beiden sind perfekt füreinander, das merkt man mit jeder Sekunde in der man sie beobachtet. Ich hoffe nur, dass Kenneth Helen ihr Selbstvertrauen zurückgeben kann, während ich mit meinem Trainer Pläne schmiede, um die beiden bald wiederzuvereinen.

Mein fliegender Held Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt