Die Ernte

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LESEPROBE




Langsam öffnete ich meine Augen, nicht sicher ob ich sehen wollte, was ich sehen würde.
Ein älterer Mann kniete über mir und musterte mich. Sein Gesicht war streng und kantig. Er trug einen vollen Bart aus rabenschwarzem Haar. Der Rest seines Kopfes war unter einer Kutte versteckt.
"Wer seid ihr?", fragte ich leise.
Er erhob sich und half mir auf. Noch mehr Männer standen am Ende des Raumes. Wahrscheinlich alle, die bei dem Angriff anwesend gewesen waren. Sie lehnten an den Bücherregalen mit welchen der ganze Raum vollgestellt war.
"Die bessere Frage ist wohl: Wer seid Ihr?" Seine Stimme war höflich und weich. Nicht so wie ich sie mir vorgestellt hatte.
Gerade wollte ich antworten als er mich unterbrach: "Deinen echten Namen, bitte."
Tatsächlich war im Begriff gewesen, mir einen falschen Namen auszudenken und ihnen aufzutischen. Waren meine Überlegungen so offensichtlich?
"Mein Name ist Aurora Pollina. Warum habt ihr mich entführt? Was habt ihr mit mir vor?"
Der Mann begann zu lachen. Seine Männer taten es ihm nach. "Wir taten alles, doch entführt haben wir dich nicht. Ich hätte unsere Tat eher als eine Art Rettung empfunden. Hätten euch die Wachen gefunden, wärt ihr nun schon lange nicht mehr unter den Lebenden."
"Also darf ich gehen?", fragte ich.
"Nun nicht unbedingt.", antwortete der Anführer lächelnd, "Es gibt noch einiges, dass wir zu bereden haben, Signorina Pollina."
Mit einem Wink, brachte er die anderen zum Gehen bis nur noch wir in dem schwach beleuchteten Raum übrig waren.
"Seid ihr die Art Frau, die man mit großen Reden beeindrucken kann oder die Art, mit der man direkt zum Punkt kommt.", fragte er schief lächelnd.
"Wir beide wissen, welche Art Frau ich bin.", erwiderte ich.
Er lachte auf und kniete sich plötzlich nieder. "Die Wahrheit ist, Signorina Aurora Pollina, wir brauchen euch.", er erhob sich wieder und starrte mir fest in die Augen, "Ich und meine Männer haben uns der Rettung dieses Königreichs verschrieben. Wir planten, unseren ersten Angriff an jenem Tag zu verüben, an dem ihr uns zuvor kamt."
Schnell weitete ich meine Augen. "Nein, nein, nein!", sagte ich schnell, "Wenn ihr mich rekrutieren wollt, seid ihr bei mir falsch! Der Dolch in dem Auge des Mannes war reines Glück. Ich kann nicht kämpfen!"
Er lachte auf, amüsierte sich über meine Unsicherheit. "Das ist jedem von uns klar. Ihr hättet sehen sollen, wie ihr dieses Messer gehalten habt, jeder normale Mensch hätte sofort erkennen müssen, dass ihr eine lausige Kriegerin seid. Nein, es geht uns um etwas anderes. Die Menschen sahen euch, sie wurden auf euch aufmerksam, bevor wir überhaupt eingetroffen sind. Sie verbinden eure Tat mit der unseren. Sie halten euch für unsere Anführerin, für eine Heldin."
Ich lachte auf. "Nun, dann macht ihnen klar, dass es nicht so ist."
"Die Menschen sind dumm.", erwiderte er, "Wisst ihr wie man das Feuer einer Revolution schürt? Durch ein Machtsymbol. Durch einen Funken, der jenes Feuer Tag für Tag am Brennen hält."
Ich schluckte schwer. Meinte er das etwa ernst?
"Ich habe nichts mit euch zu tun. Es war reiner Übermut, der mich zu dieser Tat trieb. Leitet die Aufmerksamkeit der Menschen auf ein anderes Augenmerk und sie werden denken, ich sei nur ein Sprecher, der euren gewesen. Ein Sprecher, kein Held."
"Ihr seid klug.", sprach er, "Das gefällt mir. Doch ich kann euch zu nichts zwingen. Geht wieder in die Welt da draußen. Mit dem Wissen rein gar nichts geändert zu haben. Dieser Mann ließ eure Eltern töten! Er ließ euren einzigen Freund töten! Und ihr sitzt weinerlich herum ohne etwas dagegen zu tun!"
Ich sah ihn böse an. "Woher wisst ihr das?"
"Unsere Augen sind überall, unsere Ohren ebenso. Doch ihr habt eure Augen seit langer Zeit verschlossen, habt eure Ohren seit langer Zeit gestopft."
Wütend stieß ich ihn bei Seite. "Ihr habt nicht das Recht über mich zu urteilen!", schrie ich, "Ihr kennt mich nicht!"
"Tue ich das nicht, Aurora?", brüllte er ebenso, "Du lebst das Leben, dass wir alle lebten. Eltern, Geschwister, Freunde sogar Bekannte. Sie wurden getötet. Von uns allen! Wir sind einige der wenigen Nachfahren, die die Ernte überlebten!"
"Was redet ihr?"
"Als der barbarische König seine Anhänger um sich sammelte, machte er sich ebenso Feinde. Unsere Eltern kämpften gegen ihn. Bei der sogenannten Ernte ließ er jeden von uns töten. Er ließ jene töten, deren Arbeit Früchte zu tragen begann, die er nicht für sicher erachtete. Einst waren es hunderte diese Kämpfer, doch Emilio war erfolgreicher als er es hätte sein dürfen. Wir sind die Nachkommen, der klugen Generation. Der Menschen, die schlau genug waren, die schnell genug zu begreifen begannen. Und wir sind jene, die die Arbeit unserer Vorfahren fortsetzten werden, jene, die ihn stürzen werden, so wie er es verdient. Wir werden der Grund für den Anbruch eines neuen Zeitalters sein. Eines, noch viel größer, viel schöner als das goldene, in dem wir einst lebten. In dem wir für unsere Arbeit bezahlt wurden, in dem die Menschen bestraft wurden, wenn sie es auch wirklich verdienten."
"Meine Eltern taten alles um meine Existenz geheim zu halten. Sie wollten, dass ich lebe und nicht dass ich blind in einen Kampf renne von dem ich nichts verstehe."
"Deine Eltern wollten, dass du lebst, um zu verändern, zu erfinden, zu verbessern. Doch sie wollten niemals, dass du in dieser Zeit vor dich dahin lebst, wäre das bloße Leben ihr Ziel gewesen, hätten sie dich auch töten lassen können, so wäre es einfacher gewesen."
Tatsächlich wollte ich seinen Worten entgegenwirken, doch ich konnte es nicht. Er hatte Recht. Welcher Wert bestand darin zu leben, ohne es wirklich zu tun?
Und war es nicht genau das, was ich tun wollte, als ich mich zwischen den Jungen und die Wache stellte? War es nicht mein Ziel etwas zu ändern?
Ich atmete tief aus. "Ich werde euch helfen, aber ihr müsst mir eines versprechen."
"Was auch immer ihr wünscht.", sagte er mit großen Augen.
"Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, doch im Gegenzug werden wir ihn zu Fall bringen! Ich will mit meinen eigenen Augen sehen, wie er unter der Erde verrottet."
Der Mann verbeugte sich schief grinsend. "So sei es."


Aurora Pollina - die maskierte KriegerinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt