"Heute?", schrie ich aufgebracht nachdem ich unsanft geweckt wurde.
Ich war vor dem knisternden Feuer eingeschlafen und öffnete meine Augen erst wieder am späten Nachmittag. Ich war wohl erschöpfter gewesen als erwartet, doch war das ein Grund mich so lange schlafen zu lassen und mich dann erneut ins Kalte Wasser zu werfen?
"Ihr macht Scherze.", sagte ich schnell, "Der Ball kann nicht heute sein. Warum erfahre ich das erst jetzt?"
"Wie bereits erwähnt", erwiderte Masjat, "Ihr musstet euch ausruhen. Es hätte euch nichts genutzt vorzeitig davon zu erfahren und panisch zu werden."
"Ein wenig Vorbereitung hätte es mir leichter gemacht.", gab ich entrüstet zurück.
Doch Masjat lächelte nur und ließ sich nicht von meiner Laune beeindrucken.
"Esst ein wenig, dann badet und lasst euch von Signora Catalano bekleiden. Dann gehen wir die Einzelheiten durch."
Ich nickte und tat was er sagte.
Ja, tatsächlich war ich gespannt, was genau ich auf diesem Ball sollte. Welche Informationen waren so wichtig, dass sie bereit waren solche Risiken einzugehen?
Meine Gedanken ließen sich nicht stoppen. Nicht als ich still in das Brot biss, dass mir Mia reichte, nicht als ich erneut die Luft anhielt und in das angenehme Nass tauchte und auch nichts als ich bekleidet wurde mit dem schönsten Kleid, dass ich je in meinem Leben gesehen hatte.
Es war brauner, roter und goldener Stoff, verziert und in einem wunderschönen Schnitt aufgefächert. Es ehrte mich ein solches Kleid tragen zu dürfen.
Zufrieden sah mich Masjat an als ich die Treppen hinunter in die Nähstube stieg.
"Ihr seid wunderhübsch, Signorina Pollina."
Ich wurde rot und lächelte schüchtern. Es war selten, dass mir Menschen Komplimente machten. Ich wusste nicht damit umzugehen.
"Danke.", nuschelte ich leise.
Plötzlich wurde Masjat's Gesicht ernst, ja, beinahe angsteinflößend. Er fixierte mich und griff nach meiner Hand.
"Signorina Pollina.", sagte er, "Ich frage euch nur eins. Seid ihr bereit für diesen höheren Plan alles zu opfern? Seid ihr bereit eure Freiheit zu geben? Seid ihr bereit eure Moral und eure Überzeugungen aufzugeben? Eure Ehre? Euer Leben?"
Ich nickte und meinte es so. Es scherte mich nicht mehr, was der König mir einst angetan hatte. Doch es scherte mich, dass er es ebenso abertausenden anderen antat. All das musste ein Ende finden. Dieser Mann musste brennen. Mit all seinen Unterstützern. Ich war mir bewusst, dass ich das volle Ausmaß seiner Tyrannei noch nicht einmal annähernd kannte, doch das, was ich wusste, war schon genug.
"Gut.", sagte Masjat zufrieden, "So soll es sein. Ihr werdet auf den Ball des Königs gehen. Ihr werdet ihn bezirzen und verzaubern. Nach diesem Ball muss er sich an euch erinnern und er muss den tiefen Wunsch hegen euch zu heiraten."
Mir dämmerte etwas.
"Seid mysteriös, doch trotzdem offen genug. Seid charmant, doch trotzdem ein wenig böse. Seid begehrenswert, doch lasst euch nicht von jedem begehren."
Ich konnte nicht fassen, was er da sagte. War es das, worum sie ein solches Geheimnis machten?
"Ihr, Aurora Pollina", fuhr Masjat fort, "werdet, wenn alles gut geht, die neue Königin von Venezia, Italien, der Welt."
Ich schluckte schwer. Durften sie ein solches Opfer von mir verlangen?
Mein Herz begann zu lodern, meine Knochen wurden schwach, meine Muskeln schlaff.
Wie sollte ich einem solchen Menschen, in die Augen sehen, geschweige denn ihn dazu bringen sich in mich zu verlieben?
"Warum ich?", flüsterte ich leise, in dem Wissen, dass ich keine andere Wahl hatte.
"Ihr seid eine wahre Schönheit, Aurora. Zudem seid ihr klug, schlau und begehrenswert."
Tränen stiegen in meine Augen. Alles Lügen.
Alles was ich war, war eine Hure. Eine Hure, die mit einem vermeidlich guten Gewissen entlohnt werden sollte.
Dieser Mann kannte mich nicht. Er wusste nichts. Hatte mit mir nicht mehr als zehn Sätze gewechselt, doch wollte mir weiß machen, er wusste Bescheid über meine Talente, meine Persönlichkeit, mein Wesen, meinen Geist.
Sie verschleppten mich, wollten mich loswerden, doch erkannten welches Potenzial in mir steckte. Nur bei dem Gedanken, wie sie meinen Körper begafften und darüber berieten ob mich der König anziehend finden würde, schauderte es mir. Von Anfang an war es nur darum gegangen. Sie fanden die Geschichte über meine Eltern heraus und nutzten es um mir vorzumachen, ich wäre eine von ihnen. Zufall. Mehr nicht. Es war reiner Zufall, dass meine Eltern Opfer der Ernte wurden, so wie die ihren. Diese Tatsache passte ihnen gut in ihre Geschichte. Ich? Geeignet für eine Revolutionsgruppe?
Von Anfang an war ich nur eines gewesen. Eine Hure.
Es wühlte mich auf, es machte mich wütend. Doch erneut sagte ich kein Wort.
So sehr sie mich auch ausnutzten änderte es nichts an der Tatsache, dass es die ultimative Waffe war, eine Verbündete im Bett des Königs zu wissen. Wir verfolgten das gleiche Ziel, doch wählten in unseren Köpfen andere Wege, um es zu erreichen. Doch nun war ich gezwungen einzuschlagen. Ihnen zu helfen. Wie sonst würde ich jemals wieder in einen Spiegel sehen können?
Die Informationen, die ich in solch einer Position weitergeben konnte, waren womöglich tatsächlich in der Lage einen Krieg zu gewinnen, einen Umsturz hervorzurufen. Also beschloss ich all die Selbstsüchtigkeit hinter mir zu lassen und meinen Körper zu verkaufen.
Wenn dies half, tausende von Menschen zu schützen, so war es wohl einen Versuch wert.
Ich atmete tief aus. Dann nickte ich.
"Ich werde tun, was ich kann."
Verwundert sah mich Masjat an. Er hatte wohl mit allem gerechnet, doch nicht mit einer solch wehrlosen Antwort. Freudig sah er zu Mia, die mich ungläubig musterte.
"So soll es sein.", schrie er freudig hervor, "Matteo wird euch vor dem Schloss erwarten. Ihr seid seine angebliche Großcousine und werdet ihn begleiten. Wir sollten uns beeilen. Es ist nicht mehr viel Zeit."
Er nahm meine Hand und führte mich hinaus in die kühle Nacht. Mia sah uns nur hinterher. Geschockt über meine Worte. Traurig über meinen fehlenden Wiederstand.
Sie hatte sich wohl ein schöneres Schicksal für mich ausdenken können. Das hätte ich selbst auch. Doch einmal in meinem Leben, wollte ich selbstlos sein, wollte mein Leben geben für das anderer und wirklich etwas erreichen. Vielleicht würde ein solches Gefühl von Ehre und Stolz mich wieder wachrütteln, mich zu dem fröhlichen Mädchen machen, dass ich einst war, mich wieder empfinden lassen. Ich hatte schon seit Jahren nichts mehr empfunden. Ich wollte wieder spüren, wollte leben. Wenn nicht in dieser Welt, dann zumindest in der nächsten. In jener, die gereinigt sein würde von all dem Bösen durch meine Arbeit hier und jetzt. Ein neues Zeitalter würde kommen, ich spürte es. Und wahrlich, es würde schöner werden als jedes zuvor. Denn nur aus der Asche kann sich ein Phoenix erheben. So würden auch wir es tun. Wir würden aus diesen Kampf treten, noch viel lebendiger als wir es je hätten sein können. Wir waren vieles: Kämpfer, Revolutionäre, Huren, Bauern, Händler, Sklaven, Ergebene, Adlige, Diener, Dirnen, Burschen, Schmiede.
Doch wir waren auch alle eines: Menschen.
Und wir hatten es uns verdient so behandelt zu werden.
Gerecht, ohne Willkühr, ohne Hass, ohne Tyrannei.
Wir waren Menschen. So verschieden, doch trotzdem ein großes Ganzes.
Und ich war mir sicher, wir konnten diesen Krieg stoppen. Wir konnten ihn gewinnen.
So düster eine Era auch sein mag, umso heller erschien das Licht einer anderen.
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Aurora Pollina - die maskierte Kriegerin
Historical FictionAurora Pollina ist die Tochter eines Bauern im italienischen Mittelalter. Als ein neuer König die Macht ergreift versinkt ihr Land in Armut und treibt die Menschen zur Hungersnot. Trotz ihres mangelnden Einflusses versucht sie schon bald den König...