Ich nahm neben dem König am Ende der Halle auf dem weniger verzierten Thron Platz.
Man erbat dringlichst unsere Anwesenheit als wir gerade eine Partie Schach gespielt hatten.
Also taten wir mehr oder weniger willens wie uns geheißen wurde.
Ein kahlgeschorener Mann mit immensen Muskeln trat herein und kniete vor uns nieder.
Es war wohl der neue Hauptmann, von dem ich nur durch Gemunkel gehört hatte.
"Steht auf und sprecht.", sagte Emilio ungeduldig, "Ich hoffe für euch es ist so wichtig wie ihr sagt."
"Sì!", antwortete der Mann schnell, "Es gelang uns einen der Rebellen zu ergreifen. Ein Tipp eines Unbekannten führte meine Männer genau in seine Arme."
Strahlend sah mich der König an. Ich versuchte sein Lächeln zu erwidern, doch mir wurde schlecht und schwindelig. Vielleicht machte ich mir erneut unnütze Sorgen. Vielleicht wollte der Hauptmann seine Position sichern, indem auch er irgendeinen Fremden als einen Rebellen ausgab.
"Bringt ihn her!", befahl der König.
Der Kahle befahl seine Männer, die aus der Halle verschwanden und nur wenige Sekunden später wieder eintraten. Mit sich schleppten sie eine zappelnde Gestalt. Desto näher sie kamen desto schneller begann ich zu atmen, desto schneller schlug mein Herz.
Ich erkannte ihn. Ich hätte diese blasse, blonde Schönheit von hunderten von Metern aus erkannt.
Gennaro sah mich an. Mit einem Blick so stahlfest und ernst, dass mir noch schlechter wurde.
Es war eine eindeutige Botschaft: "Egal was du tust, halt ja deinen Mund."
Also tat ich es und machte eine gute Miene zum bösen Spiel.
Aufgeregt erhob sich der König und ging auf Gennaro zu.
"Ihr. Ihr wart mir zu lange ein Dorn im Auge."
Gennaro lächelte ihm entgegen, ohne Angst, ohne Respekt.
"Ich bin nur einer von vielen Dornen."
Der König sah ihn wütend an. "Wohl wahr! Doch das Wasser, dass euch am Leben hält ist diese Anführerin. Wer ist sie? Wo finden wir sie?"
Gennaro lachte auf. "Ihr glaubt nicht wirklich, dass ich euch irgendetwas erzählen werde? Fesselt mich, haltet mich gefangen, foltert mich so lange ihr wollt. Ich werde euch nichts sagen. Gar nichts."
Emilio sah ihn auf eine beunruhigende Art und Weise an. "Es ist mir ohnehin egal. Ihr nützt mir mehr wenn ihr tot seid, wenn das Volk sieht wie ihr sterbt. Erst ihr und dann Mann für Mann eurer ganzen Fratellanza."
Ich schluckte schwer. Das würde er nicht tun. Nicht so lange ich am Leben war.
Ich setzte mich auf. "Ihr verstoßt gegen alles, was wir besprochen haben", schrie ich beinahe, "Was ist mit der Güte, die ihr dem Volk verspracht?"
"Mit jedem werde ich gütig umgehen.", erwiderte er, "Mit Dieben, Vergewaltigern, ja sogar Mördern. Doch nicht mit Rebellen. Ein jeder soll sehen, was geschieht, wenn man sich dieser Fratellanza anschließt."
Ich durfte es nicht zulassen. Niemals.
"Bringt ihn in die Verliese.", befahl Emilio, "Schon morgen wird er sterben."
Die Wachen zerrten ihn grob hinaus aus dem Saal.
Wie nur konnte ich Emilio umstimmen?
"Lasst mich mit ihm reden.", sagte ich völlig perplex ohne wirklich zu wissen, was ich sprach.
Der König sah mich verwundert an. "Warum?"
"Vielleicht kann ich ihm etwas entlocken?"
Er lachte auf. Es war ein kläglicher Versuch, das war mir selbst bewusst. Doch ich konnte nicht mehr klar denken, konnte nicht mehr vernünftig handeln. All meine Gedanken kreisten um Gennaro und das Bild das ich vor mir sah, wenn ich an seinen Tod dachte.
"Lasst es mich zumindest versuchen. Ich fühle mich sonst unnütz."
"Ich lasse euch nicht dort hinunter.", erwiderte er streng, "Das habe ich euch schon einmal gesagt. Es tut euch nicht gut."
"Ich bin keine zarte Blume, Emilio.", giftete ich ihn an. Nie war es ein Problem gewesen ihn zu überreden, doch genau jetzt stellte er sich mir quer.
"Ich weiß, dass ihr das nicht seid, Tenerezza.", antwortete er.
"Ihr sagt ihr wisst es und nennt mich im selben Atemzug Zartheit? Lasst mich helfen. Vielleicht werden wir dann wieder im selben Bett schlafen können."
Emilio sah mich schief grinsend an. Es war immer nur das eine, dass die Männer umstimmen konnte.
"Aber beschuldigt nicht mich, wenn euch übel ist, wenn ihr die Verhältnisse dort unten gesehen habt."
Ich schüttelte den Kopf und stürmte an ihm vorbei. Das war es mir ohnehin schon, auch ohne den Geruch von Verwesung und Rattengift.
Ich rannte die ewigen Treppen hinab ohne auf meine Umwelt zu achten. Ich beachtete nicht die Ratten, nicht die Nässe, nicht den Gestank, nicht die lähmenden Schreie oder die Dunkelheit.
"Lasst uns allein!", wies ich die Wachen an, die gegenüber des Verlieses standen, in dem er gefangen war.
Sie verbeugten sich und folgten meinen Befehl.
Ich brach vor Gennaros Gefängnistür zusammen, unfähig mich zu beherrschen. Ich begann los zu heulen wie ein kleines Kind.
"Pscht!", zischte Gennaro, "Willst du dass uns jeder hört?"
"Ich hole euch hier raus.", sagte ich unter Tränen, "Ich lenke die Wachen ab, ich-"
"Das werdet ihr nicht tun.", unterbrach er mich, "Es ist unmöglich. Irgendjemand würde euch bemerken. Irgendjemand würde euch sehen. Und dann? Dann war alles umsonst. Wir haben zu viel geopfert um zu sein, wo wir sind."
"Wie kannst du so etwas sagen?", rief ich, "Ich werde dich nicht sterben lassen!"
"Ich fürchte das musst du.", hauchte er und griff nach meiner Hand so gut er konnte durch die Gitterstäbe, "Lass mich sterben, cuore mio."
Fassungslos sah ich ihn an. Nein, er musste scherzen.
"Liebt ihr mich nicht? Gebt ihr so schnell auf?", keuchte ich erschöpft.
"Ich liebe euch mehr als die Sonne den Mond liebt, Aurora. Doch unsere Liebe war niemals dafür geschaffen uns lange Glück zu bringen. Es war nur ein kurzes, sehr schönes, Kapitel in einem Buch, dass schon bald sein Ende findet. Wir kämpfen für etwas Größeres.", flüsterte er, "Für etwas, für das es sich lohnt zu sterben und zu leiden. Damit helfen wir wohl tausenden von Menschen in ein neues Leben."
"Was nützt mir dieses neue Leben ohne euch an meiner Seite?"
"Was nützt mir dieses neue Leben, wenn ich tot bin bevor es angefangen hat? Fragt nicht, was es euch nützt. Sondern was es den anderen nützt. Von Anfang an war ich bereit zu sterben für das hier und nun tue ich es, bereitwillig, voller Vertrauen in eine bessere Welt. Und von Anfang an wart ihr bereit alles zu geben, was ihr habt."
"Dabei war niemals die Rede von euch.", fauchte ich.
Er lächelte sanft und streichelte den Teil meiner Hand, den er erreichte. "Doch ich gehörte euch, also musstet ihr euch auch darauf vorbereiten mich zu geben."
Sein Gerede machte mich wütend. Wie nur konnte er so sprechen? So hoffnungslos und doch so freudig auf eine Zukunft, die er niemals erleben würde.
"Ich kann mir das nicht mit ansehen.", flüsterte ich.
"Ihr müsst. Der König weiß, dass ihr keine schwache Frau seid. Ihr werdet zusehen und ihr werdet keine Miene verziehen."
"Ihr erwartet zu viel von mir, Gennaro."
Er schüttelte einfühlsam den Kopf. "Ich hatte die Ehre euch kennen zu lernen, Aurora. Egal, was ich von euch fordere, ich fordere niemals zu viel, egal was ich von euch erwarte, ich erwarte niemals zu viel. Ihr seid allem gewachsen. Allem. Und vielleicht wollte Gott es so. Seht zu und nutzt den Hass, die Trauer. Sorgt dafür, dass ich nicht umsonst sterbe."
"Ihr werdet nicht sterben", keuchte ich unter der Gewalt meiner Gefühle, "Das erste Mal in meinem Leben empfinde ich etwas für einen Menschen. Etwas, das mehr ist als nur Sympathie. Ich kann euch nicht sterben lassen."
"Liebste.", sagte er, "Ihr könnt nichts tun. Ich bin nur ein weiterer Mann, der in diesem Krieg sein Leben gibt, so wie es noch viele andere tun werden."
"Doch ihr seid mein Mann!", stieß ich hervor.
Er lächelte so gütig und berührt und dennoch mitleidig und entschlossen. Ich hasste und liebte ihn in jenem Moment.
"Wenn ihr versucht mich zu retten, so werdet ihr riskieren. Ihr werdet unsere gesamte Arbeit, die gesamte Revolution riskieren."
Ich begann zu schmunzeln. "Doch das bin ich nun mal.", flüsterte ich, "Ich bin riskant. Also erwartet nicht, dass ich eurem Willen folge und ruhig zusehe, wie ihr sterbt. Nach außen hin mag ich die Königin Venezias sein, doch in meinem Herzen brennt das Feuer der Revolution, der Liebe und der Freiheit. Drei Ideale, die nicht einmal mit dem stärksten aller Wasser gelöscht werden können. Also betet heute nacht und gebt euch der Illusion hin ihr würdet morgen für etwas größeres sterben. Währenddessen werde ich dafür sorgen, dass ihr morgen nicht sterbt."
Verzweifelt und bettelnd sah er mich an. "Ich bitte euch, Aurora. Tut das nicht."
Am Liebsten wäre ich umgehend gegangen, doch so konnte ich ihn nicht einfach verlassen. Nicht, wenn tatsächlich das Risiko bestand, dass er sterben konnte.
"Ich liebe euch. Egal, was morgen passieren wird. Ihr habt mich geprägt, zu einem besseren gemacht, merkt euch das."
Ich küsste ihn noch einmal auf einen seiner Finger, der durch die Gitterstäbe passte und ging dann zügig ohne ein letztes Wort zu sagen.
Wenn ich ihn nicht vor der öffentlichen Hinrichtung befreien konnte, so musste ich es wohl während der öffentlichen Hinrichtung tun.
"Bestellt die Schneiderin morgen früh zu mir.", wies ich einen Diener an bevor ich wohl oder übel in das Gemach des Königs ging.
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Aurora Pollina - die maskierte Kriegerin
Historical FictionAurora Pollina ist die Tochter eines Bauern im italienischen Mittelalter. Als ein neuer König die Macht ergreift versinkt ihr Land in Armut und treibt die Menschen zur Hungersnot. Trotz ihres mangelnden Einflusses versucht sie schon bald den König...