Der König bestieg mich nicht lange in dieser Nacht. Als er bemerkte, wie abwesend ich war, ließ er von mir ab und schlief vor sich hin grummelnd ein.
Ich bemühte mich ein Auge zu zu machen, doch es war mir unmöglich.
Nur einige Meter unter mir, unter schweren steinernen Mauern, hungerte und fror Gennaro, bereit sich seinem Schickaal zu stellen.
Bei solcherlei Gedanken konnte mein Gewissen keine Ruhe finden, mein Körper ebenso wenig.
Wie nur konnten wir in eine solche Lage geraten? Wer hatte den Wachen mitgeteilt, wo er zu finden war?
Was machte es für einen Sinn groß darüber nachzudenken? Vielleicht war es Verrat, vielleicht hatten wir doch zu riskant gehandelt.
Auch das beste Versteck konnte irgendwann einmal gefunden werden und unser Versteck war nicht das beste gewesen.
Wie auch immer es geschehen war, wer auch immer ihn ausgeliefert hatte. Nun war es passiert und mich sollte eine andere Frage mehr beschäftigen. Wie konnte ich ihn befreien und sein Leben retten?
Einige Pläne nahmen in meinem Kopf Gestalt an, doch nur an einem würde ich mich tatsächlich halten können ohne Opfer zu fordern, die ich nicht fordern wollte.
Also beschloss ich ihn umzusetzen.
Ich atmete tief durch und steckte mir den Finger in den Hals, so tief es nur ging. Ich kämpfte gegen meinen inneren Drang an aufzuhören. Also tat mein Körper was er tun sollte. Geräuschvoll übergab ich mich auf dem Boden neben dem Ehebett.
Emilio schrak auf und sah sich hilfesuchend um als er sah was passiert war.
"Ist euch nicht gut?", fragte er und befahl einem Diener die Sauerei aufzuwischen.
Ich schüttelte den Kopf. "Nein, Emilio. Es ist das sechste Mal in dieser Nacht.", log ich.
Er umfasste mein Gesicht und küsste meine Stirn. "Ihr werdet im Bett bleiben. Den ganzen Tag. Man soll euch den ganzen Tag überwachen, damit ihr gesund bleibt."
Ich rang mir ein Lächeln ab. "Ruhe brauche ich tatsächlich. Doch ich bitte euch, niemand muss nach mir sehen. Ich bin nicht krank."
Verwundert sah er mich an. "Doch, das seid ihr. Ihr erbrecht euch."
"Es ist das Wunder der Natur.", flüsterte ich.
Seine Augen wurden groß und er begann fröhlich zu lachen. "Ihr seid ...?"
Ich nickte. "Ich werde einen Thronfolger gebären, Emilio."
Begeistert klatschte er in die Hände. "Was will Gott noch alles tun, um mir diesen Tag zu versüßen? Sobald wir diesen Schurken hingerichtet haben, werden wir feiern, Tenerezza."
"Natürlich.", antwortete ich.
Er erhob sich aus dem Bett und ging in Richtung Tür.
"Emilio?", rief ich kurz bevor er aus dem Zimmer treten wollte, "Bitte. Schließt die Türen und lasst mich schlafen. Ich will keinerlei Störungen durch eure Wachen."
"Sì.", antwortete er, wie ich erwartet hatte ohne groß darüber nachzudenken, "Ich sorge dafür."
Eine Dienerin trat ein, verhüllte die Fenster mit Vorhängen und ging wieder. Als sich die Türen schlossen war ich vollkommen allein, in völliger Dunkelheit. Doch, wie ich erwartet hatte, klopfte es nur wenige Minuten später zaghaft an die Tür.
"Ihr ließet mich rufen?", hauchte eine wohlbekannte Stimme.
Schnell sprang ich auf und ließ Mia hinein.
"Ich schätze ihr wisst bereits davon."
Sie nickte traurig. "Wir haben keine Ahnung, wie so etwas passieren konnte, Aurora."
"Darüber können wir später rätseln. Erst müsst ihr mir helfen."
"Was immer ihr wollt.", erwiderte sie ehrbürtig.
"Tauscht die Kleider mit mir, dann legt euch hinein in das Bett bis die Wachen das erste Mal nachsehen und das werden sie. Währenddessen schleiche ich mich, verkleidet als die Scheiderin, aus dem Schloss und plane eine Befreiung mit unseren Männern. Sobald die Luft rein ist, schreibt einen Brief auf dem deutlich wird, dass die Königin entführt wurde, dann flüchtet durch die Tunnel unter dem Schloss. Ihr erreicht sie durch einen Salon im rechten Flur. Berührt die Statue und ihr werdet den Eingang finden. Wenn alles gut geht sehen wir uns heute Abend wieder."
Völlig perplex sah sie mich an. "Ihr? Aber?"
"Habt ihr mich verstanden?", fragte ich.
"Ich denke schon, aber-"
Ich begann mich zu entkleiden ohne ihr weitere Erklärungen zu liefern. Der König war wahrscheinlich bereits auf dem Weg zum Galgen, in seinen Klauen Gennaro. Wir durften keine Zeit verlieren.
Mia tat entgeistert, was ich gesagt hatte und legte mein Schlafkleid an. "Verbergt euch in den Kissen. Sie sollen sehen, dass ich noch da bin, euch aber nicht erkennen."
Mia huschte ins das Bett und vergrub sich unter Decken und Kissen. Ich setzte mir den größten ihrer Hüte auf, um ja nicht erkannt zu werden. Dann trat ich eilig aus dem Raum und lief die langen Flure entlang während ich einigen Wachen schüchtern zu lächelte, die mich misstrauisch ansahen. Als ich die frische Luft spürte und ihre Blicke mir nicht mehr folgten begann ich zu rennen, so schnell mich meine Füße trugen. Schon auf halben Wege rannte ich genau in die Arme der Fratellanza.
"Sie haben ihn!", schrie einer der Männer, "Sie haben Gennaro."
"Was denkt ihr warum ich hier bin?", zischte ich. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt um die Männer anzugehen, doch ich war gestresst und nervös.
Ich entriss einen von ihnen mein Gewand, dass er mit sich getragen hatte, warf es mir über und legte meine Waffen an.
"Uns wird kein Trick helfen, kein Glück. Alles was wir haben ist unsere Kampfkunst. Also könnt ihr kämpfen?", fragte ich harsch in die Runde.
Die Männer nickten. "Sì!", sagte einer von ihnen, "Wir kämpfen bis zum Tod für unseren Bruder."
Ich klopfte ihm auf die Schulter und ging voran.
Nun war der Zeitpunkt gekommen. Der Zeitpunkt an dem wir uns beweisen mussten, an dem sich das Volk beweisen musste. Dies würde eine offene Konfrontation werden, bei der es Opfer geben würde. Auf unserer Seite, so wie auf der des Königs. Doch es scherte mich nicht. Es mochte selbstsüchtig klingen, doch ich hätte jedes Leben für das von Gennaro gegeben.
Sie nickten mir ein letztes Mal zu und verteilten sich dann in der Menge, die sich bereits um den Galgen gesammelt hatte. Es erinnerte mich an das erste Mal als ich hier war. Genau wie jetzt, hatte ich in der Masse gestanden und das Übel vor mir verhindern wollen. Doch nun war mein Begehr nicht mehr die Rettung eines kleinen Jungen, sondern die, meiner Liebe.
Der König betrat ein kleines Podest links von dem Galgen. Währenddessen zerrten die Wachen eine blasse Figur hinauf auf das Gerüst, auf welchem schon so viele Menschen ihr Leben gegeben hatten. Sein Kopf war verhüllt von einem Sack. Die Wachen befestigten einen Strick um seinen Hals und lachten dabei als wäre es ein Spiel.
Der Hass brodelte in mir. Wie konnten sie es wagen zu lachen, wie konnten sie es wagen dieses Schauspiel zu genießen?
"Dieser Mann", schrie der König und deutete auf Gennaro, "ist ein Bruder der Fratellanza, welche das Volk von Venezia schon seit einiger Zeit vergiftet. Seht was euch erwartet, Bürger. Seht was passiert, wenn ihr euch dieser Seite anschließt! Der falschen Seite."
Ich drängte die Menschen bei Seite und arbeitete mich vorsichtig nach vorn. Immer mehr bemerkten mich und richteten ihre Augen auf mich, ich spürte es deutlich.
Die Wachen zogen den Strick um Gennaros Hals fester und machten sich bereit.
Kurz herrschte in mir ein innerer Konflikt. Kurz war ich mir nicht mehr sicher, wessen Leben ich lieber beenden wollte. Das der Wachen oder das des Königs?
Ich griff unter meinen Rock und zog zwei Wurfmesser hervor. Genug um Gennaros Leben zu retten, doch ebenso genug um die Tyrannei des Königs ein für alle Mal zu beenden. Doch natürlich gab es nur eine richtige Lösung.
Ich zielte und warf ohne zu zögern, doch diesmal traf ich nicht durch Glück genau in jeweils eines der Augen der zwei Wachen, sondern durch das Talent, dass ich mir über die Zeit lang angeeignet hatte.
Die Menge schrie auf. Und zerteilte sich augenblicklich. Ich sprintete los, sprang empor auf das Podest, löste den Strick von seinem Hals und befreite ihm von dem Sack.
Doch was ich sah ließ mich erstarren. Der Mann darunter war nicht Gennaro. Ich kannte diesen Mann nicht.
"Ich wusste das ihr kommen würdet!", schrie Emilio von seinem Podest aus.
Schnell wirbelte ich herum und sah Gennaro, gefangen in dem groben Griff des Königs.
"Lasst ihn gehen!", schrie ich wutentbrannt.
Er lachte auf. "Wie wäre es mit einem Tauschgeschäft? Euer Leben gegen seines?"
Was war es nur für ein Narr. Das war wohl das einzige, dass ich ihm nicht geben konnte. Nicht, weil ich es nicht getan hätte, nicht weil ich den Mut nicht besaß, doch Gennaro, die ganze Bruderschaft, hätte mir eine solche Tat niemals verziehen.
Emilio zog ein scharfes Messer hervor und hielt es an Gennaros Hals.
"Bei Gott, ich nehme euch alles, was ihr habt, wenn ihr das tut!", schrie ich. Ja, gerade war mir etwas eingefallen, doch noch bevor ich ein weiteres Wort aussprechen konnte, ein Wort das jene Schlacht beendet hätte, schnitt Emilio zu.
Wie in Zeitlupe spritzte das Blut aus Gennaros Kehle. Leblos fiel er zu Boden, die Leere erfüllte seine Augen. Alles, was ich je geliebt hatte. Alles, was mir wichtig war, hatte mir dieser König genommen.
Ich hätte Frieden schließen können. Ich hätte ihm verzeihen können. Den Tod meiner Eltern, das jämmerliche Leben, das ich hatte leben müssen. Doch mit dieser Tat eröffnete er einen Krieg. Einen Krieg, der so blutig und barbarisch sein würde, dass sogar der barbarische König selbst reiß aus nehmen würde. Emilio Cafissi würde schon bald um Gnade flehen, winseln wie ein jämmerlicher Feigling. Es tut mir Leid, Matteo, dachte ich zu mir selbst. Einst hatte ich dir geschworen, dass du diesem Bastard höchst persönlich den Kopf abschlagen dürftest, doch diese Freude konnte ich dir nicht mehr gewähren. Ich wollte es tun. Ich musste es tun. Er würde sterben. Durch meine Hand.
"Ihr spielt mit dem Feuer!", schrie ich dem hämisch grinsenden König zu, "Seht in die Augen dieser Menschen, jene Menschen die schon bald eure Mauern einreißen werden! Seht in meine Augen! Die Augen, in die ihr blicken werdet wenn ich euch schon bald einen Pfahl ins Herz rammen werde! Ihr habt alles verspielt, was ihr verspielen hättet können, Emilio Cafissi."
"Ich habe keine Angst vor euch!", schrie er jaulend als hätte er gerade den Geruch von Sieg erfahren, "All eure Männer werden fallen wie er es tat! Doch die nächsten, die in meine Arme laufen, werde ich quälen und foltern."
Ein Pferd kam angaloppiert. Es war ein Wink meiner Brüder. Ich musste nun gehen, denn die Wachen des Königs kamen mir gefährlich nah, wie ich plötzlich bemerkte.
"Foltert meine Männer!", schrie ich und sprang auf das Pferd, dass so gleich aufbäumte, "Ich foltere unterdessen eure Frau. Seid gespannt, ob sie noch immer in eurem Bett liegt!"
Ich drückte meine Beine in die Flanken meines Pferdes und ritt davon. Voller Zorn, voller Hass. In meinem Rücken spürte ich das verzweifelte Gesicht des Königs. Mit diesen Worten hätte ich ihn aufhalten können. Mit diesen Worten hätte ich alles verhindert. Er hätte Gennaro bereitwillig für seine Königin gegeben. Er liebte sie. Und diese Liebe machte ihn schwach, so wie sie mich schwach gemacht hatte.
Aber ich war zu langsam gewesen oder er zu schnell.
Doch das war gewiss nicht das Ende, das war der Anfang. Jetzt musste ich nicht länger schwach sein, nun, da mir alles genommen wurde, alles, um das ich hätte bangen können.
Ich würde handeln, so schnell ich konnte. Gennaros Tod durfte nicht umsonst gewesen sein. Im Gegenteil. Von seinem Tod würde man in den Geschichtsbüchern lesen. Er war der Anstoß. Der Anstoß für schreiende und wütende Menschen, die schon bald das Schloss des Königs stürmen würden und unter ihrer Kraft würde sogar der stärkste Krieger zusammen brechen.
Die Wachen würden sich wehren. Sie würden kämpfen und sie würden fallen.
Von nun an war es mein Krieg. Mein ganz persönlicher Krieg. Und ich würde als Gewinner hervorgehen.
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Aurora Pollina - die maskierte Kriegerin
Historical FictionAurora Pollina ist die Tochter eines Bauern im italienischen Mittelalter. Als ein neuer König die Macht ergreift versinkt ihr Land in Armut und treibt die Menschen zur Hungersnot. Trotz ihres mangelnden Einflusses versucht sie schon bald den König...