Ich konnte kaum schlafen in jener Nacht. Meine Gedanken wirbelten herum wie die Wellen bei einem Sturm. Ich konnte mich nicht einmal richtig über mein gelungenes Ausreißen aus dem Schloss freuen, so nachdenklich war ich. Ich sehnte den Morgen herbei, damit ich endlich Mia zu mir rufen lassen konnte.
Ich musste wissen, ob es stimmte, auch wenn ich innerlich ohnehin die Wahrheit kannte.
Was für einen Grund sollten die Männer haben, mich derart zu belügen? Sie wussten, dass ich Mia kannte. Es war für mich beinahe zu leicht ihre Aussagen zu überprüfen.
Pünktlich nach dem Frühstück klopfte sie an die Tür meines Gemachs. Ein Page öffnete und ließ sie hinein. Freudestrahlend sah sie mich an und umarmte mich. Für wahr sie war eine echte Freundin.
"Wie ergeht es euch, meine Liebe?", fragte sie nachdem wir wieder allein waren.
"Gut, danke.", erwiderte ich und musterte sie, "Doch ich frage mich weitaus mehr wie es um euch steht, Mia."
Sie sah mich verwundert an, doch sie begriff schnell. Ich sah es in ihren Augen. Für einen kurzen Moment weiteten sie sich. Welch Beweis doch allein schon jene Mimik war.
"Ich weiß nicht von was ihr redet.", flüsterte sie.
Ein kläglicher Versuch die bereits erkannte Wahrheit zu verschleiern.
"Hebt euer Gewand.", wies ich sie harsch an.
Schnell schüttelte sie den Kopf.
Drohend kam ich einige Schritte auf sie zu. "Tut es oder ich werde es tun."
Einzelne Tränen begannen ihr über ihr Gesicht zu laufen als sie vorsichtig ihren Rock hob und ihre freien Beine zeigte.
Ein innerlicher Schmerz durchfuhr meinen Körper als ich es sah. Wie ein Hieb genau in meinen Bauch.
Mias komplette Beine trugen jegliche Farben, doch nicht die, die Beine für gewöhnlich haben sollten. Schnittwunden, Narben, vereiterte offene Stellen, blaue Flecke. Es war ein Wunder, dass sie noch laufen konnte.
"Wie konnte er dir so etwas nur antun?", fragte ich geschockt.
Sie brach zusammen und begann laut zu weinen. Wahrscheinlich war es das erste Mal, dass sie sich geöffnet hatte. Es musste sich anfühlen wie tausende Dämme, die auf einmal brachen.
Ich kniete mich neben sie und nahm sie in den Arm.
So saßen wir eine Weile. Einige Stunden womöglich. Doch Mias Trauer war groß genug um Jahre damit zu verbringen zu weinen. Sie hatte es verdient einmal schwach zu sein.
Erst spät, als die Sonne bereits unterging, ertönte aus ihr nur noch ein leises Glucksen.
"Er wird euch nie wieder anrühren.", sagte ich, "Ich verspreche es euch. Er wird niemals mehr jemanden anrühren."
"Nein.", hauchte sie, "Er meint es nicht so. Manchmal hat er sich einfach nicht unter Kontrolle. Das kann passieren."
"Die Liebe macht euch blind.", erwiderte ich, "Seht euch nur an."
"Ohne ihn habe ich nichts mehr. Ich habe zu ihm aufgeblickt als wir uns das erste Mal trafen und er mir von seinen Vorstellungen, seinen Zielen erzählte.", flüsterte sie.
Ich drückte sie fest an mich. "Es ist besser nichts zu haben, als ihn. Erinnert euch immer an den Mann, den ihr einst kanntet, er existiert schon lange nicht mehr. Masjat ist nun ein anderer. Er ist böse und muss gestoppt werden."
Sie wollte etwas sagen, wollte sich wehren, mir erzählen wie sehr sie ihn liebte, doch ihr fehlte die Kraft dazu. Die Kraft, die ihr genommen wurde, genau durch die Person, die sie zu schützen versuchte.
Spät am Abend schickte ich sie widerwillig nach Hause.
Die Männer hatten also nicht gelogen. Tatsächlich schien Masjat nicht mehr bei Sinnen zu sein. All diese Macht schien ihm zu Kopf zu steigen. Es war Zeit dem ein Ende zu setzen.
Sein Tod sicherte einen Fortschritt der Fratellanza, der Revolution.
Also musste es getan werden. So bald wie möglich.
Nacht für Nacht sah ich aus dem Fenster, sah wie der Mond voller wurde.
Es war nicht mehr viel Zeit. Die Hochzeit rückte näher und wenn ich erst einmal in dem Bette des Königs liegen musste, hatte ich nicht einmal mehr die Nacht, um zu handeln. Bis dahin musste ich eine Lösung finden.
Sechs Nächte nach meinem Treffen mit Mia war es endlich so weit. Der Mond prangte am klarem Himmelszelt. Erneut zog ich mein Gewand über und ließ mich von meinen Füßen, wie von selbst, zu dem Salon mit der Statue tragen. Ich stieg hinab und hastete eilig durch den Tunnel bis hin zu dem Marktplatz, an dem ich einst einen von ihnen getroffen hatte. Ich musste nicht lange gehen bis ich schon das knisternde Feuer hörte und die leisen, beratenden Stimmen der Fratellanza.
Kurz erschraken sie als ich auf sie zuging, wurden jedoch freudig als sie mich erkannten.
"Wir haben euch erwartet.", sagte Gennaro und verbeugte sich tief.
"Ihr hattet Recht.", platzte ich heraus, "Masjat ist ein Monster, das eliminiert werden muss."
"Wir helfen euch wo wir nur können.", rief ein Mann zustimmend.
Ich hatte mir lange darüber Gedanken gemacht, hatte jedes mögliche Todesszenario von Anfang bis Ende in meinem Kopf durchgespielt, doch jedes war riskant, jedes war von der ersten Sekunde an zum Scheitern verdammt.
"Es muss gelingen.", sprach ich, "Sofort beim ersten Mal, sonst ist er auf der Hut und wird vorsichtig und dadurch unerreichbar für uns."
Zustimmend nickten einige.
"Was also wollt ihr tun?", fragte Gennaro.
"Er ist das Böse. Und das Böse verdient nur etwas, dass ihm gerecht wird. So lasst uns doch die feigste und unfairste Waffe von allen wählen. Jene, die so hinterlistig und unscheinbar ist, doch so tödlich zugleich."
"Gift.", stellte Gennaro richtig fest.
Ich nickte. "Morgen werde ich eine Ausrede finden, um dem König einen Tag zu entfliehen. Mehr habe ich nicht. Bringt mir am morgen bei zu kämpfen, im Gegenzug töte ich am Abend den Tyrannen."
"Natürlich, Signorina.", hauchte Gennaro, "Doch wie wollt ihr euch ihm nähern? Was habt ihr geplant?"
"Ich war in dieser Bibliothek, nicht wahr? Als er mich herausführte und zu Mia brachte, erkannte ich was es auch war. Euer Hauptquartier. Ein altes Gelehrtenhaus. Esst ihr darin?", fragte ich.
"Ja."
"Zusammen?"
"Meistens. Wir besprechen unsere Pläne zu Tisch."
"So soll es sein. Den Plan den Masjat morgen aussprechen wird, wird sein letzter sein. Er verdient es zu brennen, so wie es auch der barbarische König bald tun wird."
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Aurora Pollina - die maskierte Kriegerin
Historical FictionAurora Pollina ist die Tochter eines Bauern im italienischen Mittelalter. Als ein neuer König die Macht ergreift versinkt ihr Land in Armut und treibt die Menschen zur Hungersnot. Trotz ihres mangelnden Einflusses versucht sie schon bald den König...