Wir ritten so schnell wir konnten, gaben weder Acht auf pöbelnde Menschen noch schreiende Wachen.
"Haltet die Männer des Königs so lange auf wie ihr könnt.", rief ich an Gennaro gewandt, der genau neben mir ritt.
"Aber bringt euch nicht in Gefahr. Wenn ihr nicht mehr länger gegen sie ankommt, gebt mir ein Zeichen, und wir verschwinden.", fuhr ich fort.
Er nickte ernst, völlig konzentriert.
Schon von weiten sah man die vielen Menschen, die gerade im Begriff waren die verschiedenen Waren der Händler zu begutachten, die jeden Monat von weit her angereist kamen. Doch nie machten sie wirklichen Umsatz, denn kein Bürger von Venzias konnte sich etwas davon leisten. Stets galt, sehen, doch niemals kaufen.
Wir bahnten uns unseren Weg durch die Menge. Die anderen teilten sich hinter mir und nahmen um den großen Galgen Position auf welchen ich zuritt. Geschwind stieg ich vom Pferd und hinauf auf die Erhöhung des Holzgerüstes, noch immer voller Blut von den letzten Gehängten.
Ich befreite den Kopf des Hauptmanns aus dem Tuch und hielt ihn in die Luft.
Mein Atem wurde schneller, mein Herz begann zu rasen. Nur wenige hatten mich bereits bemerkt und sahen mich entgeistert an.
Ich war so weit, ich war bereit. Bereit für diese Sache zu sterben, doch ebenso bereit diese Menschen in ein besseres Leben zu führen, wenn Gott es so wollte.
"Volk von Venezia!", schrie ich aus Leibeskräften. Sofort verstummte die Menge nach und nach, bis schon bald alle Augen auf mich gerichtet waren.
"Das ist der Kopf des Hauptmannes!", brüllte ich, "Er starb als der Hauptmann, der die Truppen eines Tyrannen führte!"
Ich hörte erste Schläge von Metall, die auf einander schlugen. Irgendwo mussten bereits die ersten Kämpfe stattfinden.
"Wir müssen nicht hinnehmen, was der König uns bietet, vor allen Dingen nicht, wenn es nur Dreck, Gewalt und Tod ist! Was machte er aus uns? Aus dem einst stolzen Volk von Venezia. Er versprach euch eine bessere Welt und ihr wart gut genug ihm die Chance zu geben. Doch er tat nichts außer euer Vertrauen mit Füßen zu treten! Ihr brachtet ihn an die Macht und ihr könnt sie ihm nehmen! Alles was ihr braucht ist Mut! Schließt euch uns an! Kämpft nicht für uns, kämpft für ganz Italien! Sterbt nicht für uns, sterbt für eure Kinder und eure Familien! Tötet nicht für uns, tötet für jene, die ihr zu schützen versucht!"
"Weg mit dem König!", rief einer der Umstehenden mutig.
"Er nahm meine Kinder!", schrie eine Frau.
"Er nahm jeden von uns etwas!", antwortete ich lauthals, "Unsere Würde allem voran! Wer gab ihm das Recht willkürlich zu töten? Wir waren es nicht, Gott war es nicht. Er nahm es sich ohne Rücksicht, ohne Anstand!"
Die Menge begann zu jubeln. Ich lächelte glücklich, bis ich Gennaro sah, der eine Fackel in die Höhe hielt, ein eindeutiges Zeichen für Rückzug. Doch ich war noch nicht fertig. Noch lange nicht.
Ich nickte ihm zu und bedeutete ihnen zu gehen. Mein Pferd stand gut, wenn die Wachen sich mir zu sehr nähern würden, konnte ich schnell aufspringen, doch erst einmal mussten sie sich bis zu mir durchkämpfen.
"Lasst euch diese Gräueltaten nicht länger bieten! Erhebt euch gegen das Böse und gebietet ihm Einhalt! Nur zusammen werden wir etwas erreichen! Ein jeder von euch kann dazu beitragen! Ob ihr ein armer Bettlersjunge oder ein tüchtiger Schmied seid, eine edle Dame oder ein hinkender Trunkenbold! Jeder von euch, so verschieden ihr auch sein mögt, ist wichtig für unsere Sache. Wir sind die Fratellanza, die schon bald aus dem gesamten Volk von Venezia bestehen soll. Il Re si bloccherà.", schrie ich.
"Il Re si bloccherà!", erwiderte die Menge wie aus einem Mund.
Zusammenhalt, genau das brauchten sie.
Mir fiel eine Wache auf, die sich bereits nah an mich herangekämpft hatte. Ich hatte nicht mehr viel Zeit.
"Wann auch immer ihr Revolutionäre kämpfen seht, helft ihnen, steht ihnen bei. Wir sind in der Überzahl, wir werden immer in der Überzahl sein! Also habt keine Angst!", ich ließ den Kopf aus meiner Hand fallen, "Schon bald werden wir uns stolz das Haupt des Königs präsentieren und nicht nur den, des Hauptmannes. Erinnert euch an uns, wann immer ihr geschlagen, misshandelt, bekämpft werdet. Wir, die Fratellanza, sind das Volk und das Volk sieht alles, spürt alles, weiß alles! Il Re si bloccherà!"
Die Wache dachte ich hätte sie nicht bemerkt als er es endlich auf das Podest schaffte. Doch aus dem Augenwinkel hatte ich ihn schon die ganze Zeit beobachtet. Gerade als er nach mir greifen wollte, rannte ich los und sprang auf mein Pferd. Wie durch ein Wunder machte mir die Menge respektvoll Platz, behinderte jedoch die Pferde der Garde. Triumphierend spurte ich mein Pferd, ritt einige Umwege und kam sicher in unserem Hauptquartier an ohne, dass mich jemand verfolgt hatte.
Jubelnde Zurufe erwarteten mich. Alle blickten mir freudig entgegen außer Gennaro. Sofort kam er auf mich zu gerannt und half mir vom Pferd.
"Was habt ihr euch bloß dabei gedacht?", sagte er, "Ihr hättet sterben können! Es war riskant."
Ich lächelte ihn an, geschmeichelt wegen der Sorgen, die er sich machte. "Darum geht es doch, oder nicht? Alles was wir hier tun ist recht riskant."
Er verdrehte die Augen, konnte sich ein Grinsen jedoch nicht verkneifen.
Ich legte mein Gewand ab und übergab es Mia, die mich stolz musterte.
"Ich danke euch für dieses schöne Geschenk.", sagte ich, "Es wird nur eines der Symbole dieser Revolution werden!"
Sie verbeugte sich. "Es war mir eine Ehre helfen zu können."
"Ich muss jetzt gehen.", sagte ich leise, "Sonst wird man Verdacht schöpfen."
Gennaro nickte schweren Herzens. Er schickte einen Burschen mein richtiges, königliches Pferd zu holen, die anderen schickte er weg.
"Matteo ist bereits im Schloss. Er wartet mit dem König auf eure Ankunft. Sprecht ihn nicht auf die Folterung an, auf keinen Fall. Er rang Matteo das Versprechen ab, euch gegenüber zu schweigen. Ihr wisst von nichts."
Ich nickte, etwas enttäuscht darüber. Zu gern hätte ich den König damit konfrontiert. Es ließ seine liebevolle Fassade mir gegenüber gewaltig bröckeln.
"Und passt auf euch auf, Tenerezza.", flüsterte er.
"Nennt mich nicht so.", erwiderte ich, "So nennt mich der König und außerdem entspricht es nicht der Wahrheit. Ich bin alles, doch zärtlich bin ich nicht."
Er schmunzelte. "Wie wäre es mit cuore mio?"
Ich erwiderte sein Lächeln. "Wenn es die Wahrheit ist?"
"Die absolute Wahrheit, mein Herz."
Er nahm mein Kinn und zog es liebevoll zu sich. Unsere Lippen trafen sich als wären sie für einander gemacht. Erneut, viel zu kurz.
Kaum hatten wir uns voneinander gelöst, kam der Bursche mit dem Pferd um die Ecke.
"Euer Gaul, Signora."
Ich nickte ihm dankend zu und stieg auf.
"Wir werden uns bald wieder sehen.", sagte ich und berührte Gennaros Gesicht mit meiner Hand. Seine Haut war weich. So weich wie samtiger Stoff.
"Das werden wir.", antwortete er und gab dem Pferd einen Klaps woraufhin es losgaloppierte.
Wie der Wind ritt ich durch enge Gassen und Straßen. Wie ich vermutet hatte war der Markt auf dem ich noch Minuten zuvor gestanden hatte, wie leer gefegt. Die Wachen, die dort nach Hinweisen zu suchen schienen, erkannten mich und begleiteten mich den restlichen Weg.
"Ich hörte was passiert ist. Ist es wahr?", fragte ich den Mann, der rechts von mir ritt.
Er nickte. "Der Hauptmann ist tot. Wir bemerkten sein Fehlen nicht einmal, Königin."
"Und wie reagierte das Volk? Seid ehrlich, ihr müsst es nicht mir zu liebe schöner darstellen als es war."
Er schluckte schwer. "Sie verteidigten die Anführerin, als sie davon ritt. Sie stürzten die Wachen von ihren Pferden und versperrten die Wege. Es war unmöglich sie zu verfolgen. Als sie weg war kam es zu Unruhen. Einige Männer unserer Garde legten plötzlich die Rüstungen ab und halfen dem Volk dabei, gegen uns anzukämpfen. Wir konnten sie erst verstreuen als wir Fackeln in die Menge warfen."
"Der König wird nicht erfreut sein.", erwiderte ich.
"Nein.", antwortete die Wache, "Doch vorerst schien er ohnehin nur Augen für euch zu haben, Majestät. Er schickte uns, um nach euch zu suchen."
"Ich kann auf mich selbst aufpassen, doch es wird noch Zeit brauchen bis er das versteht, nicht wahr?"
"Sì", erwiderte er, "Wahrscheinlich wird er es nie verstehen."
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Aurora Pollina - die maskierte Kriegerin
Historical FictionAurora Pollina ist die Tochter eines Bauern im italienischen Mittelalter. Als ein neuer König die Macht ergreift versinkt ihr Land in Armut und treibt die Menschen zur Hungersnot. Trotz ihres mangelnden Einflusses versucht sie schon bald den König...