Mia Catalano, 10 Jahre später
Trauernd saß ich auf den Treppenstufen meines Geschäftes. Doch es war nicht mehr länger das meine. Nun war es ein Hurenhaus, finanziert von der neuen königlichen Familie selbst. Meine Dienste wurden nicht länger benötigt. Wozu Kleider tragen, wenn man auch nackt umher tänzeln konnte?
Kraftlos erhob ich mich und ging in Richtung des Marktplatzes. Noch immer schmückte den meisten Teil davon der große Galgen.
Ich schluckte schwer. Immer wieder sah ich es vor mir als wäre es erst gestern gewesen.
Immer noch hallten die Schreie in mir wieder als ich die Menge aufforderte, meine beste Freundin zu töten. Aurora hatte nicht ahnen können, welche Überwindung mich solch eine Tat gekostet hatte. Doch es war ihr letzter Wunsch und mir war nichts anderes übrig geblieben als ihn zu erfüllen.
Und ich bereute es nicht. Sie hatte ihren Frieden gefunden. Ich sah es in ihrem letzten freundlichen Lächeln. Doch würde auch ich jemals jenen Frieden finden können?
Es war ein Trauerspiel gewesen. Grausam mit anzusehen, wie die Bürger die verstümmelten Leichen von Emilio und Aurora durch die Straßen Venezias trugen und jubelten und feierten. Hätten sie doch nur gewusst. Hätten sie doch nur geahnt. So viel hatte Aurora für sie gegeben und nun würden die Menschen sie für ewig verdammen als die Königin von Venezia. Die Frau des Mannes, der seine eigene Stadt in die Hölle trieb. Und Rosa würde für immer in den Schatten weiterleben als das Symbol, das versuchte.
Umsonst. Wie es sich herausstellte. Rosa's Ansichten waren zu modern, zu vorausdenkend für diese Zeit gewesen. So sehr wir auch versucht hatten. Als ein anderer von den Ereignissen erfuhr, die sich hier abgespielt hatten ergriff er sich den Thron mit weniger Gewalt, doch mit der gleichen Respektlosigkeit. Und die Bürger fanden sich damit ab. Natürlich, nun verdienten sie mehr, litten nicht mehr so sehr wie sie es einst getan hatten, doch war es genug? Sicher nicht. Denn während wir immer noch froren und schufteten und hungerten, schlugen sich die Reichen ihre Mägen voll vor ihren warmen Kaminen bei sanften Klängen der Musik.
Mein Gefühl hatte wohl recht. Es würde sich nichts ändern. So sehr wir es auch versuchen würden. Noch würden wir kämpfen, doch sinnlos dabei sterben. Noch war die Welt nicht bereit dafür. Es würden noch viele Epochen kommen. Epochen, in denen Könige durch andere Statussymbole ausgetauscht werden würden, doch mehr als ihr Name würde sich nicht ändern. Die Macht würde ihnen gehören und diese winzige Veränderung würde dem Volk das Gefühl von Fortschritt geben, von Macht. Etwas, dass es wohl niemals besitzen würde.
Ja, ich war froh, dass Aurora dies wahrscheinlich nicht sehen konnte. Das, was wir aus ihrem Opfer gemacht hatten. Rein gar nichts. Doch ich schien die einzige zu sein, die es so sah. Doch ich war auch immer die einzige gewesen, die nicht aus Rache handelte. Matteo de Rossi und all die anderen Anhänger der Fratellanza fanden ihren Frieden und feierten über den Triumph, der keiner war.
Doch ich sah mit offenen, mit klaren Augen so wie es Aurora einst getan hatte. Mich trieben niemals solch stumpfe Gefühle wie Hass und die Gier nach Vergeltung. Nein, alles was ich je gewollt hatte, war die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Zu einem wirklich gerechtem, wirklich lebenswertem Ort. Doch Zeit musste vergehen, eine neue Generation musste entstehen und erneut über ihre Lage klagen. Vielleicht würden sie mehr erreichen als wir. Vielleicht nur ein wenig mehr.
Und irgendwann, weit in der Zukunft, konnten wir vielleicht wahrhaft von einem besseren Leben sprechen, einem gutem. Das, was wir verdient hatten zu leben.
Ich atmete tief aus und setzte mich keuchend auf eine Bank. Eine Krankheit quälte mich nun schon seit vielen Jahren. Lange würde ich nicht mehr auf dieser Erde wandeln. Schon bald würde ich Aurora und Gennaro berichten können, was genau sich nach ihrem Tod zugetragen hatte. Ich streckte mich ein wenig und machte einer Mutter mit ihrer Tochter Platz.
"Ich hörte, dass ein Unbekannter jeden Abend eine Rose an die Stelle legt, an der die Rebellin Rosa einst zu Tode gesteinigt wurde.", flüsterte die junge Frau zu ihrer Mutter.
Hatte ich meinen Ohren trauen können?
"Rosa ist seit langer Zeit verschwunden.", antwortete ihre Mutter, "Die Königin starb an jener Stelle. Du verwechselst etwas."
Schnell schüttelte sie beharrlich den Kopf. "Wie kann es nur keiner erkennen? Ganz eindeutig waren die Königin und die Rebellin ein und die selbe Person. Ihre Stimme war so berauschend, so fest und zart zugleich. So besonders. Sie sprachen beide auf die selbe Art und Weise, Mama. Ich bin mir sicher."
"Das macht keinen Sinn, Kind!", gackerte die Alte genervt, "Warum hätte die Königin sich als eine Rebellin ausgeben sollen oder anders herum?"
"Na weil-", wollte die Junge antworten, doch ihre Gesprächspartnerin sagte sich ohne ein weiteres Wort los und trampelte mit schweren Füßen zum nächsten Stand am Markt.
Gerade wollte auch sie aufstehen und ihr hinterher rennen als ich sie an ihrem Saumen festhielt und ihr einen bedeutenden Blick zuwarf. "Ihr habt Recht.", flüsterte ich leise, "Ihr seid ein kluges Kind."
Sie lächelte, machte einen Knicks und hopste davon als wäre es ihr plötzlich vollkommen egal, was ihre Mutter für eine Meinung hatte.
Es beruhigte mich. Es beruhigte mich zu wissen, dass es zumindest einen Menschen mehr auf der Welt gab, der die Wahrheit kannte. Die ganze, ungefilterte Wahrheit. Denn das würde Aurora wohl verdienen, später, wenn wir alle gestorben waren und niemand mehr übrig war, den man in dieser Illusion hätte halten müssen. Genau dann sollten die Menschen erfahren, was wirklich geschehen war. Sie sollten wissen, was für eine Heldin Aurora gewesen war. Sie sollten wissen, was sie alles opferte, was sie alles gab, um zumindest den Versuch zu wagen, etwas zu ändern. Etwas zu tun, das sich kein anderer traute.
Sie war mehr als nur ein armes Bauernmädchen gewesen. Sie war eine Muse, eine beeindruckende Persönlichkeit, eine Schönheit, eine Rebellin. Sie war das Abbild eines perfekten Menschen und ich würde sie ewig dafür lieben und ehren.
Ich schloss die Augen und lauschte den fröhlichen Stimmenwirrwarr und den zwitschernden Vögeln. Venezia war zu neuem Glanz gekommen. Auch wenn es nicht jener war, den ich immer erhofft hatte. Doch nichts desto trotz. Etwas hatte sich geändert. Ein klein wenig. Wahrscheinlich würde niemals mehr irgendein Herrscher so grausam sein wie Emilio es gewesen war. Zumindest das war ein Trost.
"Requiescat In Pace, Aurora.", flüsterte ich leise gen Himmel.
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Aurora Pollina - die maskierte Kriegerin
Historical FictionAurora Pollina ist die Tochter eines Bauern im italienischen Mittelalter. Als ein neuer König die Macht ergreift versinkt ihr Land in Armut und treibt die Menschen zur Hungersnot. Trotz ihres mangelnden Einflusses versucht sie schon bald den König...