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Die nächsten Tage verbrachte ich im Krankenhaus zu telefonieren, meiner Mutter Bescheid zu sagen, dass ich wieder zu Hause bin, Henning seinen Lieblings Nudelauflauf zu machen - das einzige was ich wirklich kochen kann - und Daniel aus dem Weg zugehen. Natürlich wusste Henning nichts von der Sache mit Daniel, der wäre sonst hochkant raus geflogen.

Der Nudelauflauf war fertig und ich holte Henning zum Essen in die Küche. Die liebevolle Schwester, die ich bin, hatte ich natürlich schon den gesamten Tisch gedeckt und wartete bis Henning Platz nahm.

''Und?'', Henning verzog seine Lippen zu einem Grinsen, sodass seine Zähne zum Vorschein kamen.

''Was und?''

''Wie läuft's zwischen dir und Felix?'', er grinste immer noch wie ein kleines Kind.

''Gut'', ich musste lächeln, wenn ich an Felix dachte.

''Uh, da ist aber jemand verliebt!'' Henning sagte es mit dieser robusten, rauen Stimme als gäbe es nichts schöneres.

''Wie geht's eigentlich Daniel?'', leicht versuchte ich das Thema auf ihn zu lenken. Da ich ihn ignorierte, wusste ich nichts über seine derzeitige Situation.

''Frag ihn doch einfach selbst..?'', mit vollem Mund antwortete er mir.

''Hm..ich weiß nicht, wegen der Sache mit seinem Vater.. wie soll man da reagieren?''

''Ihm geht's momentan eigentlich voll gut. Er geht in letzter Zeit sehr oft feiern und beim Müll rausbringen habe ich des öfteren leere Wodkaflaschen neben seinem Schreibtisch gefunden. Daniel meinte aber, es ist alles okay'', er zuckte mit den Schultern.

''Und das glaubst du ihm?'', ich verschluckte mich fast.

''Natürlich nicht. Aber im Vergleich zu 'nem Monat. Riesen Fortschritte. Ich rede demnächst noch mal mit ihm. Ah, und Chrissi wollte sich deine Gitarre mal ausleihen, wenn das okay ist?''

Ach meine liebe, gute Gitarre. Damals kaufte ich sie mir, in der festen Überzeugung ich würde eine Girlband gründen in der wir mit feministischen Songs die Welt verändern könnten. Doch sie lag nur im Keller als Dekoration. Rest In Peace, Gitarre.

''Sicher.'', wir aßen auf und ich müsste weiter ins Krankenhaus. Ich hatte einen Termin zur Besprechung meiner Behandlung, man da hatte ich richtig Bock drauf. Es war Spätsommer aber immer noch heiß. Ich entschied mich für ein kurzes Sommerkleid und machte mich auf den Weg. Natürlich erzählte ich meinem Bruder nichts davon.

Dort sagte man mir, dass mein Tumor drastisch gewachsen sei und dass man mich zur Behandlung in eine Spezialklinik schicken müsse, in die ich jeweils 2 mal die Woche hin müsste. Chemotherapie. Wie erwartet. Ich werde mich schwach und unbeholfen fühlen, Haare werden entfallen und ich werde Kotzen bis zum Geht-Nicht-Mehr. Dann redete er noch von irgendwelchen Stadien und Zuständen, mit denen ich sowieso nichts anfangen konnte. Ich bedankte mich für das Gespräch und ging raus.

Für mich war es die beste Idee, es erst mal meinem Bruder mitzuteilen. Ich hatte Schiss und den ganzen Weg nach Hause, dachte ich über eine passende Formulierung nach. 'Henning, ich muss dir was blödes sagen..', nein. Ach man, das war alles so schwer.

Nach der halben Strecke jedoch, entschied ich mich noch in ein Café, das direkt gegenüber von mir lag zu gehen. Noch konnte ich nicht nach Hause, dazu war ich nicht bereit. Ich bestelle einen Cappuccino und kramte Felix' Buch aus meiner Tasche. Im fett gedruckten rot stand'Billy Elliot'. Ich fing an zu lesen und wurde praktisch abhängig. Schnell befand ich mich in einer völlig fremden Welt. Ich war nicht mehr Lyndsey May, die Krebs hatte. Ich war nun Billy, dessen Leben doch deutlich interessanter war. Keine Ahnung, wie lange ich da saß aber kurz vor Ladenschluss kam eine höfliche, junge, attraktive Dame zu mir und sagte mir, dass nun Ladenschluss sei. Ich bezahlte mein Getränk und machte mich diesmal nun wirklich auf den Weg nach Hause. Henning war in seinem Zimmer. Ich könnte es ihm einfach wann anders sagen. Nein, scheiße. Ich musste endlich mit der Sprache rausrücken. Am besten noch bevor ich alle meine Haare verlor.

Langsam klopfte ich an seine Tür. Mein Herz übertönte alle Geräusche.

''Komm rein.'', seine Stimme war unverwechselbar.

Er lag in seinem Bett und las irgendeine Zeitschrift und ich legte mich neben ihn, Hände auf meinen Bauch. Ich lag eine Weile Stumm da und Henning interessierte sich gar nicht für mich. Nein, er blätterte viel lieber in seinem Magazin rum. Ich schloss meine Augen und irgendwann platzte es einfach aus mir heraus.

''Ich habe Krebs.'', ich sagte es schnell, doch so, dass man mich verstand. Ein Stein fiel mir vom Herzen, doch es pochte wie verrückt.

''W-was?'', er legte den Gegenstand zu Seite und wir sahen uns an.

''Du bist der erste dem ich es sage.. Oh gott..'', ich fing an zu Schluchzen und fühlte mich wie in einem dieser schlecht gedrehten 90er Teeniefilmen. Doch auch Henning kullerte eine Träne herunter. Ich sah ihn nur selten weinen. Das letzte mal war, als Nadine, seine Exfreundin Schluss machte.

''Wie lange weißt du es schon?'', er kannte mich nun gut genug, um zu wissen, dass ich dieses Geheimnis eine Weile mit mir herumtrug. Immer mehr Tränen flossen aus seinen Augen, augenblicklich hörte ich auf. Ich nahm in in die Arme und erzählte ihm alles. Endlich ließ ich alles raus. All' meine Gedanken und Gefühle. Es fühlte sich gut an, es mit jemandem zu teilen. Nach einer Weile hörte Henning auf zu weinen und meinte, ich würde es schaffen. Ich hätte ja schließlich schon schlimmeres durchgemacht. Aber das konnte man nicht damit vergleichen. Klar, ich erlebte seelischen Schmerz in derVergangenheit aber körperlichen – nicht in dieser Form.

Es war schon spät und ich entschied mich dafür, ins Bett zu gehen. Ich wollte meinen normalen Alltag wieder erleben und morgen früh arbeiten gehen. Henning sah das ganze kritisch, ich sollte nicht arbeiten. Aber was sind Kaffee kochen und Kaffeetassen von A nach B zu bringen schon für eine Arbeit? Das bekam selbst ich noch hin. Ich wollte nicht besonders behandelt werden. Ich will diesen scheiß nicht hören. 'Du hast ja jetzt Krebs..', nee man. Echt nicht. Bevor ich einschlief, schrieb ich Felix noch eine SMS.

Der nächste Morgen lief relativ entspannt. Nachdem ich meine typische Morgenroutine erledigt hatte, ging ich zu meiner Arbeitsstelle. Um fünf war ich dann endlich fertig und ging nach Hause.

''Hallo!'', ich schrie in den Hausflur rein. Keiner Zuhause?

Also machte ich mich in die Küche, am Tisch saß Daniel. Vor ihm, eine Bierflasche.

''Hey, Daniel...'', ich zögerte kurz. ''Ist Henning nicht da?''

''Ach jetzt kanns 'u auf ein mal mit mir redn'.'', völlig betrunken antwortete er mir. ''Der's einkaufn'. Das is' egentlich die Aufgabe von dir, jetzt wo du wieder hier bist.'', er merkte wohl, dass ich ihm aus dem Weg ging. Ich seufzte.

''Dann geh ich halt beim nächsten mal einkaufen.''

''Ja, wozu seid ihr Fraun' denn sonst gut? Für nichts, dämliche Huren.'',er nahm ein Schluck von seinem Bier.

''Wie bitte?'', ich hatte echt Verständnis für Daniel's Situation aber man muss sich ja nicht alles gefallen lassen. Meine Tonlage veränderte sich drastisch.

''Du hast schon verstanden du Miststück.'', er zog eine Böse Miene und stand auf, seine Hände ballte er zu Fäusten. Ich hatte Angst. Schreckliche Angst. Langsam trat ich zurück, doch er kam immer näher. Er drängte mich in die Ecke und ich fiel hin. Er benutzte diesmal nicht seine Hände um mich zu verletzen, denn er trat auf mich ein.

''Es ist okay'', flüsterte ich mir zu, ''er kann nichts dafür.''

 Kurz bevor ich dachte, es sei vorbei, packte er mich und zog mich nach oben, nur um mir einen Schlag ins Gesicht zu verpassen. Ich spürte wie Blut von meiner Nase tropfte. Daniel sah mich besorgt an und ich nutzte die Gelegenheit um ihn ins Gesicht zu spucken. Eine Mischung aus Hass und Angst überfuhr mich. Ich wollte einfach losrennen, doch immer noch war ich in seinem Griff gefangen. Diesmal nahm er seine Hand und legte sie um meinen Hals. Die Luft wurde immer knapper.

''Daniel...'', ich keuchte, doch er ließ mich nicht los. ''Daniel...'', ich versuchte es ein weiteres mal mit leiser Stimme.

''LASS SIE LOS, BIST DU NOCH GANZ DICHT IM KOPF?'', er hörte auf die Stimme und befreite mich aus der Situation. Panisch schnappte ich nach Luft. Fuck. Fuck. Fuck.

Was machte Felix denn nun auf einmal hier?

The only exception // Felix Brummer (Kraftklub)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt