Die Trauerklöße

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Als ich am nächsten Morgen aufwache, brummt mein Schädel. Hat sich Mattys Kater auf mich übertragen oder was?

Ein wenig Licht strahlt herein, ich drehe mich vom Fenster weg. Steven liegt schlafend neben mir. Ich begutachte ihn, er sieht süß beim Schlafen aus. Als er anfängt sich zu bewegen, steh ich auf und lauf aus meinem Zimmer.

Meine Mutter sitzt im Garten und trinkt Kaffee. Ich setze mich zu ihr, sie lächelt mich schwach an.

"Guten Morgen. Hattet ihr Spaß?", frägt sie und ich muss erstmal überlegen, von was sie redet.

Ah stimmt, wir waren ja feiern.

"Jup." Also abgesehen von dem Kotzen, Jess und dem Schrank.

"Die Jungs schlafen noch?"

Diese offensichtlichen Fragen immer.

"Scheint so."

Sie will noch etwas sagen, aber ich hab keine Lust mehr mit ihr zu reden und gehe deshalb in die Küche. Dort füll ich mir ein Glas mit kaltem Wasser und trinke es in einem Zug leer. Zum Glück ist das Wasser und kein Alkohol.

Ich frage mich, wie es Jess gerade geht. Oder der kleinen Fetten. Und Dylan.

Es schwirren viele Fragen in meinem Kopf herum und ich frage mich, wieso ich mich diese Dinge überhaupt frage. Verdammt, noch eine Frage.

Theoretisch könnte ich mich mit den Fragen beschäftigen. Aber erstens will ich mich nicht mit ihnen konfrontieren und zweitens hab ich schlicht und einfach keine Lust dazu.

Trotzdem will ich meinen Kopf irgendwie frei kriegen und beschließe deswegen ein wenig nach draußen zu gehen.

Leise tapse ich hoch in mein Zimmer, um mir Klamotten zu schnappen. Die Haare binde ich mir unordentlich hoch, damit sie mir nicht unnötig ins Gesicht fliegen. Da ich nicht schon wieder ein Kleid tragen will, hol ich aus meiner Tasche eine kurze Jeansshort und Unterwäsche. Nach kurzer Suche finde ich auch ein Shirt. Es ist schwarz, Matty hat es mir mal geschenkt.

Steven schläft noch, weshalb ich mich in meinem Zimmer umziehe.

"Wo geht's hin?", nuschelt Steven plötzlich hinter mir.

Ich drehe mich erschrocken um, aber er liegt mit Augen zu im Bett. Er hat mich also nicht beobachtet.

"Keine Ahnung, einfach raus."

Er setzt sich auf, wischt sich durchs Gesicht und fährt sich dann durch die Haare. Verdammt, das sieht schon wieder viel zu heiß aus.

"Ich komm mit. Warte kurz."

Er steht auf, zieht sich seine Hose über und verschwindet ins Bad. Braucht der nicht mal ne neue Unterhose?

Nach ein paar Minuten kommt er mit nicht mehr ganz zu wuscheligen Haaren wieder.

Er hat kein T- Shirt an und dem Anschein nach hat er auch nicht vor eins anzuziehen.

"Habt ihr ne Zahnbürste für mich?"

Oh shit, wir haben beide nicht Zähne geputzt, wie eklig.

Ich nicke und kurz darauf stehen wir beide Zähne putzend im Bad. Als ich mich im Spiegel betrachte, bemerke ich mein verschmiertes Make Up und schminke mich deshalb ab. Es kommt mir so vor, als wären Steven und ich ein altes Ehepaar.

"Skaterpark?"

Ich nicke und wir fahren mit seinem Longboard los. Kurz davor hat ihn meine Mutter überredet doch ein Tshirt anzuziehen. Schade Marmelade. Diesmal stehe ich auf dem Longboard und er zieht mich.

Wir haben nicht mal eine Ahnung, wie viel Uhr es ist.

Es sind zwei Skater vor Ort, einer von ihnen ist zu meiner Überraschung Dylan.

"Seh ich okay aus?", flüster ich Steven zu, obwohl uns sowieso keiner hören kann.

"Schlimmer als sonst, aber immer noch okay."

Wow, dankesehr.

Wir laufen zu Dylan und kurz bevor wir vor ihm stehen, bemerkt er uns.

"Hey Ava. Alles klar?"

Er zieht mich in seine Arme, er riecht gut. Nach Jungsparfum, Schweiß und seinem Eigenduft.

Ich nicke. Die Jungs nicken sich nur zu und das wars dann. Dylan kennt nicht einmal seinen Namen.

Wir führen ein paar zwanglose Gespräche, bis die Jungs dann ein wenig rumfahren. Ich nutze die Zeit, um meinen Kopf ein wenig frei zu kriegen. Ich lege mich auf den Boden, schließe die Augen und atme ein paar Mal tief durch.

Mir geht es schlecht. Ich weiß nicht warum, aber mir geht es sehr schlecht.

Ich vermisse die kleine Fette sehr, ich frag mich, ob sie überhaupt noch lebt. Kann ich sie besuchen? Aber ich will auch nicht in die Hölle von Klinik zurück.

Mein Kopf schmerzt. Druck.

Ich frage mich, ob Jess im Moment nüchtern ist. Vielleicht lebt sie auch gar nicht mehr. Schmerz.

Ich denke an Sugar, die viel zu früh aus dem Leben gerissen wurde. Trauer.

Ich frage mich, wo ich jetzt ohne Matty stehen würde. Wo würde ich sein, wenn er die Drogen nicht entdeckt hätte? Wahrscheinlich unter der Erde. Angst.

Jemand berührt mich am Arm und ich schrecke hoch. Es ist Steven. Er guckt mich besorgt an und fragt, was los ist.

Ich setze mich auf und umarme ihn. Dann fange ich bitterlich zu weinen an und lasse alles raus. Normalerweise weine ich nie. Weinen zeigt Schwäche und ich wollte nie wieder schwach sein. Nun weine ich in den Armen von einem Jungen, den ich gerade mal ein paar Tage kenne.

Dieser streichelt mir über den Rücken und flüstert mir ununterbrochen beruhigende Sachen ins Ohr.

"Was ist los?", flüstert er und löst sich von mir. Er sieht so besorgt aus, dass es fast schon weh tut.

Ich zucke mit den Schultern und wische mir dann über die nassen Augen. Zum Glück hab ich mich davor abgeschminkt.

Er denkt jetzt, dass ich es ihm verschweige, aber ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wieso ich weine.

Vielleicht lasse ich meine ganzen Emotionen der letzten Zeit nach draußen. Vielleicht vermisse ich mein altes Leben, mein altes Ich. Aber vielleicht bemitleide ich mich auch nur selbst.

"Komm.", fordert er mich auf und zieht mich dann nach oben.

Ich frage nicht, wohin er will, sondern folge ihm einfach. Wir verabschieden uns nicht von Dylan, was mich ein wenig traurig macht. Ich mag ihn wirklich, könnte mir sogar was mit ihm vorstellen.

Steven hält sein Board in der linken und meine Hand in der rechten Hand. Zuerst denke ich, wir gehen zu mir, aber das tun wir nicht. Was hat er vor?

Warum steuert er auf einen Friedhof zu?

Als wir vor einem Grab stehen, lässt er los. James Brown.

"Steven?", murmle ich und gucke vorsichtig hoch zu ihm.

Ein leichtes Lächeln liegt auf seinen Lippen.

"Hier komm ich immer her, wenn ich traurig bin."

Ich gucke auf die Daten auf dem Grabstein. Zuerst denke ich, es handelt sich um seinen Vater, aber das kann nicht sein. 1997- 2010.

Bitte nicht. Ich will ihn fragen, aber traue mich nicht. Seine Augen sehen feucht aus, aber er wird nicht weinen.

"Mein Bruder.", sagt er nach einigen Minuten und atmet tief ein und aus.

Seine Stimme ist brüchig, es fällt ihm immer noch schwer. Ich habe viele Fragen. Woran ist er gestorben? Wie geht es ihm dabei? Wie geht es seinen Eltern?

Aber eine Frage übertönt alle anderen.

Warum hat er mir so etwas anvertraut?

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