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Steven und ich sind noch einige Zeit auf dem Friedhof. Wir stehen vor dem Grab, wir laufen rum, wir sitzen auf den Bänken. Er ist sehr schweigsam, aber das stört mich nicht.
Er lenkt mich von meinen Problemen ab. Ich komme mir fast schon dumm mit meinen eigenen Problemen vor. Er hat seinen kleinen Bruder verloren, ich habe niemand verloren, außer mich selbst.
Nach geschätzten zwanzig Minuten gehen wir zum Blumenladen des Friedhofs. Steven kauft eine weiße Rose und legt sie danach auf das Grab. Dort liegen viele Blumen, Kränze und Kerzen. Sein Grab wird noch regelmäßig besucht.
"James hat rote Rosen gehasst. Er fand es gemein, dass sie so viel Aufmerksamkeit bekommen haben und die weißen vernachlässigt wurden, obwohl sie doch viel schöner sind.", meint er und fängt zu lachen an.
Ich sehe ihm an, dass es ihn traurig macht und er diese Trauer unter dem Lachen versteckt. Aber ich gebe seinem Bruder recht. Weiße Rosen sind wesentlich schöner als rote.
Langsam lege ich meine Hand in Stevens und drücke sie leicht. Er lockert sich ein wenig, ist nicht mehr ganz so angespannt. Er wird mir gleich erzählen, wie er gestorben ist, aber ich will es nicht hören. Einer von uns wird weinen und das ertrage ich nicht.
"Er hatte einen Brieffreund in Ecuador."
Noch kann ich nichts mit dieser Information anfangen.
"Irgendwann hat er James zu ihm eingeladen. Er hat meine Eltern so lange angebettelt bis sie es ihm erlaubt haben."
Steven macht eine Pause, drückt meine Hand fester und atmet einmal durch. Er starrt aufs Grab, als würde dort sein Bruder stehen. Und ich glaube, für ihn steht er dort auch.
"Meine Mutter wusste, dass er es ihr nie verzeihen würde, wenn er nicht gehen dürfte. So Angst wir auch um ihn hatten, wir haben es erlaubt. Kurz vor den Sommerferien ist er dann losgeflogen. Er hat sich so gefreut."
Mir wird klar, dass er nicht mehr lebend aus Ecuador zurückgekehrt ist, aber ich habe Angst vor dem Grund.
Ich will es nicht hören, aber er muss es rauslassen.
"Zwei Wochen sollte er dort bei ihnen leben. Einen Tag vor seiner Abfahrt sind sie noch einmal ins Einkaufscenter, um ihm ecuadorianische Spezialitäten zu kaufen, die er uns dann mitbringt."
Irgendwas ist beim Einkaufen passiert. Eine Schießerei, ein Terroranschlag?
"Dann kam ohne jede Vorwarnung ein Erdbeben."
Nein.
"Er und die Familie wurden zuerst nur als vermisst gemeldet."
Bitte nicht.
"Nach zwei Tagen haben wir die Nachricht bekommen, dass er gestorben ist. Das Center ist komplett zusammengestürzt. Die ganze Familie war sofort tot."
Er weint still und hört auf zu reden.
Ich drehe mich zu ihm und nehme ihn in die Arme. Jegliche Tränen verkneife ich mir, da er selbst sonst nur noch mehr weint.
"Er war noch so jung verdammt. Er war der herzlichste, schlauste und beste Mensch überhaupt. Ich werd ihn nie wieder umarmen können."
Steven steigert sich immer mehr hinein, aber das ist okay so. Denn ich weiß, dass er das alles in sich hinein gefressen hat und nie ausgesprochen hat. Also lass ich ihn reden und ich lass ihn weinen.
"Wir haben geplant, wie wir ihn am Flughafen abholen, wie wir ihn überraschen."
Nun laufen auch mir vereinzelte Tränen das Gesicht hinunter. Selbst wenn ich ihn nicht kannte, tut es mir weh Steven so zu sehen. Er bedeutet mir nach dieser kurzen Zeit unglaublich viel und es bedeutet mir umso mehr, dass er sich nach so kurzer Zeit so schnell öffnet.
"Sein Brieffreund war sogar noch jünger. Er hat versprochen uns auch mal zu besuchen."
Er löst sich von mir und guckt mich mit nassen Augen an. Er führt gerade einen Kampf mit sich selbst und ich kann nur tatenlos zusehen.
"Ich weiß, dass er tot ist. Aber selbst nach all den Jahren kann ich es nicht realisieren und begreifen. Was hat mein unschuldiger, kleiner Bruder der Welt getan, dass er so früh sterben musste? Er hatte doch noch sein ganzes Leben vor sich. Ich versteh es einfach nicht."
Steven läuft auf das Grab zu und kniet sich davor, er zittert. Ich wünschte Matty wäre hier, er kennt Steven besser als ich.
Er bringt mich zum Nachdenken. Warum muss so ein kleiner, unschuldiger Junge sterben und nicht zum Beispiel ich? Ich habe Drogen genommen, habe fast schon auf meinen Tod hingearbeitet. Warum habe ich eine zweite Chance bekommen und er nicht?
"Diese Erkenntnis, dass ich ihn nie wieder umarmen kann..."
Er bricht mitten im Satz ab und atmet tief durch. Er ist kurz davor zu brechen und ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Würde ich mein Handy benutzen, würde ich Matty anrufen.
Ich laufe zu Steven und lege meine Hand auf seine Schulter. Keiner kann den Tod des Kleinen rückgängig machen.
"Aber immerhin ist er bei seinem Brieffreund gewesen. Hat so eine unglaubliche Reise erlebt. Ist glücklich gestorben."
Steven steht auf und umarmt mich.
"Ich weiß. Sein Glück bedeutet mir alles."
Er atmet tief durch.
"Sorry, dass ich dich mit sowas nerv.", murmelt er dann und fährt sich durch die Haare.
"Wie kommst du darauf, dass du mich nervst? Ich hör dir gerne zu."
Steven seufzt und läuft ein wenig auf der Stelle herum. Er ist total aufgelöst, ein Häufchen Elend.
"Wir kennen uns kaum und ich erzähl dir meine halbe Lebensgeschichte. Normalerweise öffne ich mich nie jemanden."
Ich lächle ein wenig. Er hat sich mir geöffnet, freiwillig.
"Warum dann mir?"
Er zuckt mit den Schultern.
"Keine Ahnung. Irgendwie fühl ich mich bei dir wie Zuhause. Ist das komisch?"
Seine Augen sind zwar noch nass, aber er weint nicht mehr. Das Weinen hat ihm sehr gut getan. Ich merke, dass eine Last von ihm gefallen ist.
"Nein.", antworte ich.
Steven kommt auf mich zu und guckt mir tief in die Augen.
"Zerstört es wirklich die Freundschaft?", wispert er und kommt immer näher.
Erst muss ich überlegen, was er meint, aber dann wird es mir klar.
"Nein.", antworte ich noch einmal und dann bringt er mich zum Schweigen.

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Clean
Genç Kurgu"Du bist clean, Ava." "Ich hab' schon bessere Witze gehört." Diese Geschichte widme ich meinem Lieblingsbuch meiner Lieblingsautorin: Schnauze Alien.