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Er zieht mich vorsichtig zu seinem Bett und legt mich sanft darauf ab, ehe er sich neben mich setzt und mir sanft durch die Haare streicht. Ich lege meinen Kopf auf seinen Oberschenkel und schaue einfach stumm weinend auf die mit Polaroidfotos übersehene Wand. Alle gleichmäßig und im selben Abstand aufgehängt thronen sie über seinem Schreibtisch, auf welchem sich sein Tagebuch und unsere Haushaltskasse befindet. 

Er hatte die Kamera in einem Müllcontainer gefunden, hat er mir erzählt. Sie musste nur ein wenig abgestaubt werden und dann war sie wohl wieder voll funktionstüchtig. Das erste und auch das verblassteste Foto, ist von ihm und seinen Freunden, die ihn großgezogen haben. Sie sehen alle sehr glücklich aus auf dem Bild und sitzen zusammen um ein kleines Feuer herum. 

Ich bin froh, dass er nicht alleine sein musste. Er hatte jemanden, der auf ihn aufpasste, während ich dagegen jahrelang alleine war. 

Ich liege stumm weinend einfach nur da und genieße, wie Mike mir seine Aufmerksamkeit spendet. Ich bin nicht aufmerksamkeitsgeil oder habe einen Defizit, der das verlangen würde, ich bewundere nur, dass Mike bei mir ist. Immerhin könnte er jetzt auch irgendwas anderes sinnvolles machen. Er könnte sich wieder mit Annie über irgendwas belangloses streiten, bis Annie dann noch gewinnt. Oder er könnte seiner zweiten Leidenschaft nachgehen und irgendwas kochen. Oder er könnte auch Fernsehen. Er könnte viel mehr machen, aber nein. Er ist hier mit mir zusammen und streicht mir über den Kopf, während ich sein Hosenbein nass heule.

Ich weiß nicht genau, wie lange wir so da lagen, aber irgendwann hat er mich dann doch gefragt, was los wäre. "Ich weiß nicht, mir wird das gerade zu viel.", murmle ich niedergeschlagen und schniefe einmal, was mir Kopfschmerzen bereitet. Ich weiß nicht, wie lange ich nicht mehr geweint habe. Bestimmt ein paar Jahre. Ich glaube das letzte Mal war, als ich von der Polizei nicht ernst genommen wurde. 

"Ich habe dich noch nie so kaputt gesehen, Levi. Was ist passiert?", fragt er und küsst meinen Kopf. "Ist irgendwas mit Eren vorgefallen?" "Nein, es war toll... Aber dann.. wir haben über die Schule gesprochen, weil er gerade sein Fach-Abi macht. Ich fühle mich dumm, wenn ich bei ihm bin. Dann hat Petra was gesagt, was ich nicht verstanden habe, weil es auf Englisch war und sie hat sich darüber lustig gemacht. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich kann kein Englisch, in Mathe bin ich eine totale Niete und auch Deutsch kann ich nicht mal richtig. Ich kann ja nicht einmal meine eigene Muttersprache."

"Du bist nicht dumm Levi. Nur weil du nicht so gut Englisch oder Mathe kannst, bist du doch lange nicht dumm. Schau mich an. Ich bin mit 11 von der Schule gegangen und habe trotzdem geschafft zu leben. Und ich hatte dabei Hilfe. Du warst alleine und hast das geschafft. Das zeugt doch von einem gewissen IQ. Oder?"

"Total. In der Zeit wurde ich zweimal vergewaltigt und von Hunden angepinkelt, wirklich sehr schlau.", murre ich und höre, wie der Dunkelblonde leise seufzt. "Plädierst du jetzt darauf, dass du dumm bist?" Ich nicke.

"Du bist keineswegs dumm, Levi. Alle, die das sagen, die sind dumm." Weil er klingt, wie ein kleines Kind, muss ich leicht schmunzeln, doch mein dadurch entstandenes Lächeln fällt auch schon sogleich wieder, da seine Tür geöffnet wird und Petra plötzlich dort steht. "Ich will einkaufen gehen, soll ich was mitbringen?"

Ich schüttle stumm den Kopf, löse meinen Blick wieder von dem winzigen Kobold und höre, wie Mike ebenfalls verneint. Sie verschwindet wieder und nur kurze Zeit höre ich, wie die Haustür ins Schloss fällt. 

"Was muss passieren, dass du wieder glücklich bist?", fragt er mich leise. "Bring mir meine Mutter zurück, hol meinen Vater aus dem Knast und mach, dass ich hier nicht mehr arbeiten muss." "Wie wäre es, wenn ich mal mit Erwin rede, dass Petra unmöglich hier bleiben kann. Weil sie dich runter zieht und du dadurch deprimiert und lustlos bist. Das fällt sich dann auf den Sex aus. Und dann verdient Erwin weniger."

Ich zucke nur mi den Schultern. Er schaut kurz auf die Uhr und sagt dann, dass wir das jetzt machen und schon stellt er mich hin, wischt mir mit seinen Daumen die Tränen aus dem Gesicht und sagt dann, dass ich mir Schuhe anziehen soll. 

-

Er klopft an der dunklen Tür und ein dumpfes "Herein" ertönt. Mike stößt die Tür auf und sieht Erwin betrübt an. Er zieht mich vorsichtig zu sich und schiebt mich dann vor unseren Boss. Mike schließt die Tür wieder und Erwin hebt fragend eine seiner mutierten Augenbrauen. "Was macht ihr hier?", fragt er und deutet mit seiner linken Hand auf die beiden Ledersessel vor sich. Wir setzen uns und Mike beginnt zu erklären. "Es geht um Petra. Sie und Levi haben eine gemeinsame Vergangenheit, die sie nun ausnutzt um Levi ziemlich zu deprimieren."

"Und was soll ich da machen?" Auch wenn Erwin ein Arschloch ist, er kann verdammt gut Probleme lösen und ist eine Person, der man auf jeden Fall gehorcht. 

"Es könnte sich schlecht auf das Geschäft auswirken, wenn Levi nicht mehr will." Erwin schaut zu mir. "So schlimm?" Ich nicke und presse meine Arme vor meinen Oberkörper. "Was ist da passiert mit euch?", fragt er und klingt irgendwie viel netter als vorher. 

"W-wir waren zusammen in einer Klasse. Aber als ich dann obdachlos wurde, musste ich die Schule abbrechen und hab deshalb auch keinen Abschluss. Sie nutzt jetzt aus, dass ich zum Beispiel nicht so gut Englisch sprechen und verstehen kann und spielt auf meine Dummheit diesbezüglich an."

"Also erstmal Levi, niemand bei euch ist dumm. Vielleicht hat sie bessere Englischkenntnisse als du, aber das macht dich noch lange nicht dumm. Dumm ist es, wenn man auf Probezeit ist und dann so etwas tut." 

Probezeit? Seit wann gibt es eine Probezeit?

Ich nicke nur. "Ich werde mich darum kümmern, dass sie wo anders untergebracht wird. Und sollte es dort ähnliche Probleme geben, dann wird das unschöne Konsequenzen für sie haben." Ich nicke wieder nur und schaue den größeren ehrfürchtig an. Der Respekt, den ich Erwin Smith gegenüber hege ist verdammt groß. 

"Gibt es noch was?", fragt er nett und trinkt einen Schluck aus seinem Weinglas. "Eigentlich ni-" "Ja.", unterbricht mich Mike und schaut mich entschuldigend an. "Was denn?" Mike holt tief Luft und beginnt dann schnell zu reden: "Sehen die Regeln zum Thema Beziehung immer noch so aus, wie vor einem Jahr?"

Erwin hebt wieder eine Augenbraue, stellt sein Glas ab und faltet seine Hände. Was tut Mike denn da?! Wenn sie sich nicht geändert hatten - wovon ich mal ausgehe - dann würde Erwin sicherlich fragen, warum Mike das wissen will. Dann wäre entweder er und ich am Arsch oder nur ich. 

"Kommt drauf an." Verdutzt schaue ich zu unserem Boss, der nur grinst. "Mit wem und kann man diesem Jemand anvertrauen, dass man in einem Bordell arbeitet, ohne dass diese Person es weiter erzählt."

"Könntest du dich das mit wem vielleicht etwas eingrenzen? Wer wäre denn erlaubt?", frage ich und der Blick, der durch seine blauen Augen vertreten wird, wandert zu mir. "Keine anderen Nutten, sonst bekommt ihr irgendwelche Geschlechtskrankheiten. Niemand, der gelegentlich bei der Konkurrenz vorbeischaut. Und über achtzehn."

"Was ist mit einem Kerl aus Blankenese?" "Was will einer aus Blankenese von euch?" Es klingt nicht abfällig, wie er es gesagt hatte, sondern eher besorgt. Ein wenig väterlich.

Ich zucke nur mit den Schultern und schaue verunsichert zu Mike, der eine wahnsinnige Ruhe ausstrahlt. Vielleicht hatte er immer Recht und Erwin ist gar nicht so über und will uns wirklich nur beschützen.

Downphase I [Ereri/Riren]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt