Bilder des Labyrinths - III

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Sarah lief durch einen Wald; orange-, rotfarbene und gelbe Blätter fielen lautlos von den dicht stehenden, hohen Bäumen. Die Luft war kühl und von dünnen Nebelschwaden durchzogen, die die Sicht erschwerten; es duftete erdig und frisch.
Sie hatte kein Ziel, sondern lief einfach immer tiefer in den Wald. Hie- und da streiften Sonnenstrahlen der untergehenden Sonne ihr Gesicht, die durch das Dickicht fielen.
Sie lief so lange, bis die Sonne fast untergegangen war und sie eine kleine Lichtung des Waldes erreichte; dort fand sie einen kleinen Teich, an einer Seite davon befanden sich große Steine. Nun bemerkte sie auch die vielen kleinen Lichter, die überall waren; in Baumkronen, über dem Wasser des Teichs und Sarah an kleine, hell leuchtende Sterne erinnerten. Sie nahm einen Schatten wahr, der sich aus dem Wald löste und versteckte sich rasch hinter einem breiten Baumstamm und versuche, nicht allzu laut zu atmen. Sarah wagte es, einen Blick zu riskieren.
Der Goblinkönig saß auf einem der Steine; er trug einen cremefarbenen Umhang, der mit Federn bestückt war und dazu passende Hosen, Hemd und Wams. Die Spitzen seines wirren Haares schimmerten silbrig; eine sanfte Brise ließ Strähnen in sein Gesicht fallen.

Nachdenklich starrte er auf die Oberfläche des Wassers, als sähe er darin etwas Anderes als sich selbst. Ein Bein hatte er angewinkelt und das andere von sich gestreckt.
Sarah beobachtete, wie er seine Hand ausstreckte und mit den Fingerspitzen Kreise durch das Wasser zog. Um besser sehen zu können, trat sie einen Schritt vor – und stieg scheinbar auf ein Ästchen, denn unter ihrem Fuß knackte es. Sie hielt die Luft an und kniff die Augen zusammen, aber es war zu spät.
Jareth blickte direkt in ihre Richtung. „Ich weiß, dass du hier bist, kleine Sarah. Es ist nicht nötig, dich zu verstecken" Sarah trat unsicheren Schrittes von ihrem Versteck hervor und näherte sich dem Teich.
„Zuerst: nenn mich nicht ‚kleine Sarah', ich bin kein Kind mehr. Wo sind wir?", fragte sie verärgert und war gleichzeitig peinlich berührt, dass er von Anfang an von ihrer Anwesenheit gewusst hatte. Inzwischen war die Sonne untergegangen und die kleinen, durch die Lüfte gleitenden Dinger tauchten die Lichtung in ein sanftes Licht. „Und was sind das für Lichter hier?"
Mit einer eleganten, schnellen Bewegung erhob sich der König. Er verschränkte seine Hände hinter dem Rücken. Sarah fiel auf, dass er seine Handschuhe nicht einmal ausgezogen hatte, als er das Wasser berührte.

„Wir sind an dem Ort, den du heute schon einmal gesehen hast", antwortete er. „Er ist Teil meines Königreichs. Ich habe ihn erschaffen, so wie alles andere."

Sarah legte den Kopf in den Nacken, um die vielen Lichter zu beobachten; es waren so viele und sie strahlten mit den Sternen am Nachthimmel.
„Es ist wunderschön", gab sie zu. Tatsächlich hatte Sarah noch nie zuvor einen schöneren, friedlicheren Ort gesehen als diesen.
„Nun, vielen Dank, kleine Sarah." Sie fuhr erschrocken herum, als der König ihr ins Ohr flüsterte. Er hatte plötzlich direkt hinter ihr gestanden, den Mundwinkel belustigt hochgezogen. Wie nicht anders erwartet, provozierte er sie. Sarah runzelte misstrauisch die Stirn, als sie sah, dass Jareth ihr die Hand entgegenstreckte. „Um der alten Zeiten willen; darf ich um diesen Tanz bitten?" Er zwinkerte und Sarah spürte, wie sich ihre Wangen erneut erröteten und sie ihm verlegen ihre Hand reichte, um weiteren Augenkontakt zu vermeiden. Jareth legte die andere Hand sacht auf ihre schlanke Hüfte, während Sarahs' auf seiner Schulter ruhte. Sie begannen, langsam über die Lichtung zu tanzen. Das Rauschen der Baumkronen in der sanften Brise, das Zirpen und der gelegentliche Ruf eines Käuzchens waren die Musik ihres Tanzes; Jareth führte selbstsicher.
„Diese Lichter, die du siehst, sind Feen", fuhr der König fort. „Aber zwischen ihnen befinden sich auch Irrlichter. Sie sind schön, aber sie führen in den Tod; sie begleiten ihn stets."

Sarah schwieg. Sie hatte schon einmal mit ihm getanzt, das war lange her. Sie nahm erst jetzt wahr, wie fein seine Gesichtszüge eigentlich waren. Seine Wangenknochen waren ausgeprägt und unterstrichen seine spitz zulaufenden Augenbrauen; die schmalen Lippen wirkten rosig und hoben sich von seiner hellen, silbrig schimmernden Haut ab.
Die ungewöhnlichen Augen wurden von einem weißen und dunklen Muster geziert; der dezente Duft nach Flieder stieg in ihre Nase, als sie sich gemeinsam drehten. Die Magie des Ortes schien durch den Vollmond verstärkt zu werden. Sie bemerkte, dass er leise eine Melodie summte, die sie irgendwoher kannte ...
„Dieses Bild von mir", begann Sarah und riss sich damit aus ihren Gedanken, „ich habe es in einem der Bücher gefunden."
„Von allen Werken, die ich besitze, musstest du ausgerechnet diese finden, aber gut: bevor ich einen neuen Ort erschaffe, verewige ich ihn zuerst und verändere, was mir nicht gefällt. Gelegentlich beobachte ich auch die Menschenwelt und zeichne Dinge, die ich für wertvoll genug halte, für alle Gezeiten festgehalten zu werden." Seine Worte machten sie sprachlos. Er hielt sie für wertvoll? Hatte dieser hochtrabende Goblinkönig ihr soeben ein Kompliment gemacht?
Als sie ihre Fassung wiedererlangt hatte, stellte Sarah diese eine Frage, die sie seit ihrer Rückkehr aus dem Labyrinth beschäftigt hatte ...
„Was bist du?"

Für einen kurzen Augenblick wirkte es für Sarah so, als hätte sie einen wunden Punkt getroffen, da er abrupt stehen blieb und somit den Tanz beendete. Er ließ von ihr ab und kehrte wortlos zu dem Teich zurück, wo er sich wieder auf dem Stein niederließ.
Irritiert folgte Sarah ihm und kniete sich auf den von Moos überzogenen, weichen Boden.
„Ich bin nicht menschlich, ich war es niemals; ich bin kein Goblin. Ich existiere. Und das schon für sehr, sehr lange Zeit. Du weißt jetzt genügend über mich, schon fast zu viel. Und jetzt-", in seiner Stimme schwang plötzlich Wut mit, „verschwinde. Geh!"
Der Boden unter ihr brach auf, sodass sie keine Chance mehr hatte, zu flüchten; sie schrie, als sie in schwarze Tiefe stürzte, während der König ihr nachsah.


„Sa-wah! Saa-waah! Sa-wah nicht guuut."
„Sei still, Ludo, du weckst sie noch", wies Hoggle seinen Freund an. Der Riese saß vor Hoggles kleinem Häuschen, das in einem Erdvorsprung gebaut lag, und lugte mit einem Auge durch das Fensterchen. Er brummte traurig und schwieg schließlich.
Hoggle war gerade dabei, Kräutertee zuzubereiten und schob den Wasserkessel über das Feuer. Sir Didymus wechselte gerade den feuchten Lappen auf Sarahs Stirn, während Ambrosius freudig an Sarahs Fingern leckte.
Sarah erwachte, zog ihre Hand weg und setzte sich langsam, unter dem Protest von Sir Didymus, auf. Nachdem sich ihre Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten, wollte sie aufstehen, stieß sich dabei jedoch schmerzhaft den Kopf an der niedrigen Decke, stöhnte und ließ sich wieder auf die harte Bank fallen. Kleine Erdbröckchen rieselten auf ihr Haar.
Hoggle schnappte hörbar nach Luft und kam auf Sarah zu. „Mädchen, bleib' bloß sitzen. Du musst dich ausruhen!"
Tränen schossen in Sarahs Augen, als sie realisiert hatte, dass sie sich im Kreise ihrer Freunde befand; sie packte Hoggle ungestüm und umarmte ihn lange. „Ach, ach, jetzt hör aber auf", brummelte der Zwerg und löste sanft ihre Arme von ihm.
Sir Didymus nahm seinen federbesetzten Hut ab und verbeugte sich so tief, dass seine Nasenspitze den Boden berührte. „Mylady, wie schön es doch ist, Euch wieder zu sehen", sagte er mit schriller Stimme, hob ihre Hand und setzte einen feuchten Handkuss darauf.
Ludo, der Sarahs Erwachen noch nicht bemerkt hatte, brummte draußen vor sich hin.
„Wie komme ich hierher?", wollte Sarah wissen. Sie erinnerte sich noch an den seltsamen Traum, den sie von Jareth gehabt hatte.

Betreten blickte Hoggle zu Boden und scharrte mit dem Fuß darüber, während Sir Didymus sich plötzlich mehr für ein Bündel Kräuter zu interessieren schien, das von der Decke hing. Der Wasserkessel blubberte vor sich hin.
Genervt verdrehte Sarah die Augen und stemmte eine Hand in die Hüfte. „Was ist los? Sagt mir doch bitte, was stimmt denn nicht? Ich war zuletzt im Schloss, wieso bin ich jetzt hier? Ihr habt mich doch nicht entführt, oder?"
Hoggle schlug die Hände zusammen. „Meine Güte, nein, der König würde dafür unsere Köpfe rollen lassen, wo denkst du denn hin? Es ist ... also ... naja, es ist so ..." Er rang um die richtigen Worte. Wie sollte er Sarah das nur erklären?
Sie hatten sie tatsächlich nicht entführt. Der König persönlich hatte dafür gesorgt, dass Sarah zu ihnen gebracht worden war. Die Garde, die die junge, bewusstlose Frau zu ihnen gebracht hatte, hatte ihnen nur eine karge Nachricht des Königs überbracht.
Einer der Goblins hatte eine Schriftrolle unter seiner Rüstung hervorgezogen und verlesen, dass Sarah von nun an das Schloss nicht mehr betreten möge, solange der König nicht anders verfüge. Danach war die Gruppe wieder abgezogen und hatte die drei Freunde ratlos zurückgelassen.
Hoggle atmete tief durch. Der Teekessel zischte und piff schrill. Dann erzählte er Sarah, was geschehen war, und dass sie selbst nicht wüssten, was der Grund dafür war.
Sie hatte nur dagesessen und seiner Erzählung gelauscht. Als er geendet hatte, nickte sie nur kurz, erhob sich und bewegte sich auf die Feuerstelle zu.
Hoggle berührte ihren Arm, doch sie ignorierte seine Geste. „Sarah-" Sir Didymus und er tauschten einen Blick aus. Der kleine Fuchs verließ das Haus unter dem Vorwand, Ludo Gesellschaft zu leisten.

Sarah schob den Kessel weg. Mit der anderen Hand hielt sie sich an der Umrandung des Kamins fest, so als ob sie ansonsten den Halt verlieren würde. Das Feuer tanzte und knisterte. Tränen brannten erneut in ihren Augen.
Der König hatte sie verstoßen. Eigentlich sollte sie sich darüber freuen, dass er offensichtlich kein Interesse mehr daran hatte, ihr zu begegnen und sie deshalb zu ihren Freunden geschickt hatte. Das war doch auch der einzige Grund gewesen, weshalb sie in den Untergrund zurückkehren hatte wollen. Jareth musste ihrer überdrüssig geworden sein, und das nach einer so kurzen Zeit – er war unberechenbar. Womöglich war ihr Wunsch doch ein Fehler gewesen; sie konnte ein leises Schluchzen nicht unterdrücken.

I will be your slaveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt