Zeit des Erwachens II

415 29 4
                                    

Das Blut pulsierte durch seinen Körper, als würde er sich auf einen bevorstehenden Kampf vorbereiten; seine Finger kribbelten und es fiel ihm schwer, ein Zucken zu unterdrücken. Er war zugegebenermaßen froh darüber, dass nun ein beträchtlicher Abstand zwischen ihnen herrschte; wäre sie in seiner Nähe gewesen, hätte sie die enorm geweiteten Pupillen gesehen, die ohnehin schon auffällig genug waren, und vielleicht seine Absichten erkannt. Seine Sinne waren in diesem Augenblick so geschärft wie noch nie, sodass er nicht nur - wie sonst auch - Sarahs Gedanken lesen konnte, sondern auch schwach ihren Puls hören konnte; er wusste, dass sie es tun würde. Sie hatte abgeschlossen, war bereit.

Das hatte sie ihm mit jenem unerwarteten Kuss mehr als deutlich gemacht: er erinnerte sich an die Zärtlichkeit, die ihm innewohnte, und ihre Wärme, die sie ausstrahlte. Der süße, kurze Schmerz, der ihn so plötzlich durchfuhr, als sie ihn biss, trieb ihn nahezu in den Wahnsinn und ließ die Scheu, mit der sie sich stets begegnet waren, brechen. Er genoss es, dass sie - und sei es nur für die Sekunde eines Lidschlags - endlich ihm gehörte. Nein, vielmehr, dass sie zu ihm gehörte. Wie lange hatte er darauf gewartet?
Und doch hatte der Kuss viel zu schnell ein Ende gefunden, und Sarah wich vor ihm zurück und versetzte ihm damit denselben Stich wie damals in der Illusion des Balls, als sie ihn von sich gestoßen hatte. Sie verließ ihn erneut, doch diesmal würde der Abschied für immer - endgültig - sein. Er hatte das Gefühl, dass sein Herz bei diesem Gedanken in tausende Stücke riss. Das war etwas, das er unter keinen Umständen zulassen konnte und wollte. I can't live within you.

Er hatte stets die Wahrheit gesagt; es war schmerzhaft genug, zu wissen, dass sie ihn hasste und niemals an seiner Seite sein würde, aber zuzusehen, wie sie in den Tod ging, war schlicht unerträglich.
Doch der Tod war mächtig und hatte Sarah auch in Jareths Reich begleitet, hatte seine kalten Klauen nach ihr gestreckt und war kurz davor, sie zu berühren. Etwas blitzte kurz in den Augen des Königs auf. Nein. Seine Macht mochte in der Menschenwelt schwächer sein, doch dies war sein Reich, über das er herrschte und wachte. Der Tod gehörte nicht hierher.

Was wird er tun? Seht, seht doch, hörte er das leise, aufgeregte Flüstern seiner Koboldscharen, er lässt sie gehen, nicht wahr, er gibt das Mädchen frei.

Er zwang seinen Körper zur Ruhe; dafür würde er jede erdenkliche Kraft benötigen, die er besaß. Es war keine Zeit für Überlegungen übrig - jetzt, oder nie.
Mit einer üblich schnellen Bewegung zog er einen Kristall hervor, hörte sich Sarahs Namen sagen und hielt sie damit davon ab, zu springen. Er offenbarte ihr sein letztes Geschenk und nur er konnte das Leuchten sehen, das von dem Kristall ausging. Sie konnte gar nicht erahnen, wie mächtig und wertvoll er war.

Mit einem Dröhnen in den Ohren, das sich als Sarahs schnellen Herzzschlag herausstellte, bot er es ihr mit gestrecktem Arm und demselben, erhabenen Lächeln wie damals an, doch es kostete ihn große Anstrengung, die Fassung zu wahren. Sein Körper begann, sich allmählich zu verändern, doch es lag allein an Sarah, was als nächstes passieren würde. Sie musste sein Geschenk annehmen, damit er ihr helfen konnte, doch das Mädchen musste nichtsahnend selbst entscheiden.
Jareth sah, dass sie zögerte, während er beunruhigt die Kälte registrierte, die der Tod mit sich brachte und seinen Atem in kleine, weiße Wölkchen verwandelte; Sarah wirkte derart abwesend, umringt von den Lichtern, dass er für einen Augenblick glaubte, sie bereits verloren zu haben. Doch dann geschah es, worauf er sehnsüchtig gewartet hatte: sie schlug ihre Augen auf und sprach jene Worte, die sie ihm so lange verwehrt hatte.

Der Kristall verschwand zischend in den Wolken und erlaubte Jareth damit, all seine Kraft zu nutzen und eine Macht zu offenbaren, von der er selbst noch nie Gebrauch gemacht hatte; dunkle Venen zeichneten sich unter seinen Augen ab, mit denen er Sarah nach wie vor fixierte. Er hatte das Gefühl, in Flammen zu stehen; feine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, als der Schmerz wie eine Schlange durch seinen Körper kroch.
Zischend stieß er die Luft mit geschlossenen Augen zwischen den Zähnen hervor; der edle Stoff riss mit einem knackenden Geräusch an seinen Schultern, während der Schmerz nun genau an jener Stelle pulsierte und jeden Sterblichen hätte ohnmächtig werden lassen. Es war schon beinahe eine Erleichterung, als sich der Schmerz materialisierte, indem er Jareths Fleisch an beiden Seiten wie ein Dolch durchbohrte und damit den König von den Qualen erlöste; er breitete die Flügel, die wohl schon immer ein unbekannter Teil von ihm gewesen waren, aus, spürte, wie sich der Wind in den langen Federn fing, und wusste, dass er genauso vertraut damit war wie mit seiner Eulengestalt.

Er spürte sein warmes Blut, das aus den Wunden floss, und wusste ebenso, dass dieser Akt seine Kräfte enorm schwächte, seine Macht aber dennoch gewachsen war. Im nächsten Augenblick sah er, wie Sarah das Gleichgewicht verlor und stürzte; mit einer unglaublichen Schnelligkeit hechtete er an den Rand, wo er, ohne zu zögern, in die Tiefe stürzte; das blonde Haar peitschte ihm ins Gesicht, doch seine Gedanken galten nur der jungen Frau, umgeben von den bedrohlichen Lichtern. Dumpf nahm er das Grollen des Donners wahr, aber es bedeutete nichts für ihn, ebenso wie die Tatsache, dass das halbe Reich gerade beobachtete, wie sein König sich ins Verderben stürzte.
Es spielte keine Rolle mehr für ihn, dass er anders war. In diesem Augenblick zählte nur, Sarah zu retten. Die langen Flügel nah an den Körper gelegt, raste er hinterher, die Hände nach dem Mädchen gestreckt; es war ihre Hand, die er als erstes zu fassen bekam, und die ersten Irrlichter auseinander stoben. Seine Arme umfassten ihren deutlich abgemagerten, kalten Körper. Ihr Gesicht war so fahl und knochig, wie er es schon einmal vor sich gesehen hatte; es war nicht mehr Sarahs', es war vielmehr das Gesicht des Todes, in das er nun wutentbrannt starrte, doch seine Züge wurden sogleich weicher, als er erkannte, dass Sarah ihm mit halbgeöffneten Augen ein schwaches Lächeln schenkte, so als wollte sie ihm dafür danken, dass er ihr in diesen letzten Sekunden beistand.

„Ich bewege die Sterne für dich", hörte Jareth sich schließlich selbst sagen, etwas, das er ihr verwehren hatte wollen, nachdem sie sich gegen ihn entschieden hatte. Er konnte die Tränen in ihren Augen glitzern sehen, bevor sie endgültig das Bewusstsein verlor.
Er spannte seine Flügel abrupt, und verhinderte damit den weiteren Sturz; mit sanften Schlägen hielt er sich und Sarah, die schlaff in seinen Armen hing, in der Luft, und erkannte, dass sich der wolkenverhangene Himmel zu lichten begann.
Doch dann war da das Mädchen, so schwach, dass es dem Tod näher war als dem Leben.„Sarah." Er drückte sie an sich, hielt seine Lippen an ihr Ohr. „Du hast mein Geschenk angenommen, und so soll es sein." Gemeinsam glitten sie zu Boden, wo er elegant im nassen, hohen Gras landete; sie befanden sich am Waldesrand in unmittelbarer Nähe des Schlosses, dennoch herrschte eine unheimliche Stille.

Er kniete nieder und zog das Mädchen an sich. Sanft strich er die dunklen Haarsträhnen aus ihrem Gesicht, berührte dabei ihre Wange, ehe er den Handschuh mit den Zähnen auszog und achtlos fortschleuderte.
„Ich habe dir das Leben in meinem Reich geschenkt", hauchte er, „wo Zeit unbedeutend ist, und nichts so, wie es scheint. Der Tod hat hier keine Macht mehr über dich, aber in deiner Welt ... alles wird anders sein. Du wirst mich dafür hassen, aber du wirst es verstehen lernen." Seine Finger zeichneten ihre Züge nach, ehe er seine Hand auf ihre Stirn legte und die Augen schloss; die Schatten unter Sarahs Augen begannen langsam zu schwinden, während ihre eingefallenen Wangen allmählich wieder rosig wurden.
Die Male an seinen Händen brannten, als er all die Dunkelheit in sich aufnahm, die sich wie schwerer Nebel in seinem Körper zu verteilen schien; er spürte, wie sein warmes Blut sich seinen Weg über die Wangen bahnte, wie es von seiner Nase an das Kinn lief. Dennoch blieb er völlig gelassen. Der Tod war wütend auf ihn, weil Jareth ihm das Mädchen verwehrt hatte; er wütete in seinem Körper, suchte ihn zu zerstören, von ihm Besitz zu ergreifen, doch es würde ihm nicht gelingen. Der König hörte nur den unbändigen, kräftigen Herzschlag Sarahs, und zufrieden stellte er fest, dass der Tod sie nun endgültig frei gegeben hatte. Dennoch schlang er schützend seine Flügel um sie beide. Er musste dafür sorgen, dass sie in sein Schloss gebracht wurde und ruhte.

Als er die Augen aufschlug, erschienen sie für einen kurzen Augenblick vollkommen schwarz, ehe sie ihre außergewöhnliche Färbung annahmen.

I will be your slaveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt