Traue niemandem

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Die Falltür war ins Schloss gefallen, nachdem Sarah die ersten Treppen nach unten gegangen war. Sie hatte noch Hoggles überraschtes Ausrufen gehört und war dann in völliger Finsternis gefangen, da die offene Luke ihre bisher einzige Lichtquelle gewesen war. Ihr Herz raste und sie versuchte, nicht in völlige Panik zu verfallen. Blind und langsam tastete sie sich mit Händen und Füßen den Weg entlang, erschrak dabei nicht nur einmal, weil sie um Haaresbreite eine Stufe verfehlt hätte. Sie konnte nicht einmal die Hand vor den Augen erkennen, so dunkel war es. Herabhängende Wurzeln kitzelten ihr Gesicht. Der modrige, erdige Geruch erschwerte Sarah das Atmen.
Die Treppen wollten einfach kein Ende nehmen, aber Sarah gab nicht auf. Ihre Geduld sollte belohnt werden, als sie nach zahlreichen weiteren Treppen ein kaum wahrnehmbares Flackern ausmachte. Zuerst glaubte sie, sich dieses nur einzubilden, doch mit jedem weiteren Schritt kam sie diesem näher. Die Treppe machte eine Windung und führte sie schließlich zu der Quelle dieses Lichts. Sie betrat einen kleinen, runden Raum, auf dessen Boden sich nichts weiter als eine Kerze befand. Von dem Raum zweigten drei weitere Wege ab, die alle in die Ungewissheit führten. Sarah ging in die Knie und hob die Kerze auf. Sie hielt sie mit beiden Händen umklammert, so als könnte sie jeden Augenblick einfach verschwinden. Ratlos musterte sie die Wege. Die Flamme flackerte unruhig. Keiner davon lieferte einen Hinweis darauf, wohin sie führten und sie sahen auch gleich aus.

Sarah runzelte angestrengt die Stirn, streckte die Kerze aus und beobachtete. Woher war dieser Luftzug gekommen? Sie atmete tief durch, bevor sie die Luft anhielt. Ihr Puls verlangsamte sich, ihre Sinne wurden verschärft. Dieser leichte Luftzug kam eindeutig von dem mittleren Weg.
Das musste wohl der richtige Weg sein. Gibt es überhaupt so etwas wie richtig oder falsch hier?, durchfuhr sie der Gedanke, oder laufe ich ohnehin ins Verderben?
Rasch vertrieb Sarah diesen Gedankengang. Egal welchen Weg sie nahm, sie musste so oder so einen wählen. Sie blieb also bei ihrer Wahl und ging weiter; das Kerzenlicht gab ihr jedenfalls ein wenig Sicherheit und sie kam schneller voran.
Zunächst dachte sie, sich verhört zu haben, doch als sie erneut lauschte, vernahm sie das Plätschern von Wasser. Wenn es hier eine Quelle, oder womöglich einen kleinen unterirdischen Fluss gab, musste dieser auch irgendwo rausführen. Sarah näherte sich dem Geräusch und verfiel in Laufschritt, wobei die Flamme gefährlich flackerte.
Sie fand sich in einer Sackgasse wieder und fluchte daraufhin leise. Aus der Wand ragte ein steinerner Löwenkopf, aus dessen Maul Wasser in eine Rinne im Boden lief und in einem kleinen Loch in der gegenüber liegenden Wand verschwand. So viel zu ihrer Theorie mit dem Fluss. Sie seufzte und stellte die Kerze ab.

„Allo!"
Sarah hielt irritiert inne, sah sich suchend um.
„Allo, hier. Hier unten bin ich."
Ein kurzer, schriller Pfiff lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das Loch, vor dem ein alter Bekannter saß. Der blaue Wurm mit den großen Glupschaugen und dem roten Schal musterte sie neugierig.
„Ich kenne dich doch", stellte Sarah fest und kniete sich zu ihm. „Was tust du hier?"
„So? Wir kennen uns? Hmm, ich erinnere mich nicht so recht. Ich wohne hier, was sonst?", antwortete der Wurm keck, „hab ich dir dann schon meine Alte vorgestellt?"
„Nun ja, ich dachte, du wohnst in den Mauern des Labyrinths, nicht hier unten", gab Sarah zurück.
„Mein Bau ist groß, du Dummerchen. Auch wir Würmer haben gern viel Platz", meinte der Wurm und begann, mit dem Kopf in Richtung des Lochs zu nicken, „also, wir haben genügend Platz. Komm doch mit rein, und ich stell dich meiner Alten vor, wenn ich das noch nicht gemacht habe."
Sarah lehnte sein Angebot erneut dankend ab, während sich die Situation seltsamerweise anfühlte, als würde sie ein De-ja-vu durchleben.
Das ständige Plätschern und Gluckern trocknete Sarahs Kehle aus; sie hatte das Gefühl, dass ihre Zunge am Gaumen festklebte. Sie war so durstig. Mit beiden Händen formte sie eine Schüssel, ließ etwas Wasser hineinlaufen und trank. Dünne Rinnsale bahnten sich ihren Weg über ihr Kinn. Das Wasser war herrlich kühl und tat gut, sodass sie sich ein paar Schluck davon gönnte.

Der Wurm hatte sich einstweilen in seine Behausung zurückgezogen. „Hätte ihr vielleicht sagen sollen, dass sie davon nicht trinken darf", hatte er vor sich hingemurmelt.
Sarah genoss das Gefühl, als das kühle Nass ihre Kehle benetzte. Immer wieder schöpfte sie Wasser und trank, als wäre sie kurz davor gewesen, zu verdursten. Erneut schöpfte sie das kostbare Lebenselixier und wusch sich bei geschlossenen Augen damit das staubige und müde Gesicht.
„Hey, Sarah – ist alles in Ordnung bei dir?", fragte eine Stimme, die einem jungen Mann gehörte. Rasch nahm sie ihre Hände vom Gesicht und blickte sich verdutzt um. Eine Kellnerin in rosafarbener Uniform eilte mit einer Kaffeekanne an ihr vorbei; es duftete verführerisch nach Pancakes und Speck. Eine Gruppe Erwachsener mit Kindern, die offenbar eine Geburtstagsparty feierten, rumorten lautstark und stimmten ein Lied an, während eine weitere Kellnerin mit einer Torte mit Wunderkerze sich der Gruppe näherte. „Sarah?"
Erst jetzt nahm Sarah die Person, die ihr gegenüber saß, wahr. Es war Matt, ein Junge aus der Nachbarschaft, mit dem sie die Highschool besucht hatte, und der sie nun besorgt musterte.
„Ist alles in Ordnung? Willst du vielleicht ein Glas Wasser?" Er winkte nach der Kellnerin, aber Sarah schüttelte den Kopf. „Nein, nicht nötig", antwortete Sarah. Ein Blick aus dem Fenster und das Surren der Klimaanlage verriet ihr, dass draußen Hochsommer herrschte; ein paar lachender Mädchen liefen mit einer Eistüte an dem Diner ihrer Heimatstadt vorbei.
Was zum Teufel ging hier vor ...?

Matt hatte nach ihrer Hand gegriffen und hielt sie nun in seiner. Er lächelte. „Muss wohl die Hitze sein", meinte er und gönnte sich einen Schluck seines Milchshakes.
Sarah entwand sich möglichst unauffällig aus seinem Griff. Sie überlegte, räusperte sich dann. „Wie lange sind wir denn schon hier?", fragte sie und bemühte sich, die Frage nicht allzu seltsam wirken zu lassen. Verlor sie denn etwa den Verstand?
Matt beendete sein Schlürfen und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Etwa eine Stunde, wieso? Langeweile ich dich?", fragte er und klang dabei ein wenig bestürzt.
Hastig schüttelte Sarah den Kopf. „Nein, ganz und gar nicht. Es ist nur ... ich muss mit den Gedanken gerade wo anders gewesen sein." Sie setzte ein möglichst beruhigendes Lächeln auf. Matt war stets freundlich zu ihr gewesen, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, je vorgehabt zu haben, ihn zu daten.
„Ich komme gleich wieder, lauf nicht davon", entschuldigte sich Matt, erhob sich und verschwand auf die Toilette.
Sarah stützte sich mit beiden Ellenbogen auf dem Tisch ab und fuhr sich durch ihr Haar. Sie war soeben mehr als verwirrt. Hatte sie sich etwa nur alles eingebildet, war ihre Fantasie wieder mit ihr durchgegangen? Aber sie war doch zuletzt im Krankenhaus gewesen, als sie ihren Wunsch ausgesprochen hatte ...

Sie ließ ihren Blick schweifen – und blieb dabei an einem Mann hängen. Ein kalter Schauder lief über ihren Rücken. Er saß alleine an einem Tisch, eine unberührte Tasse Kaffee vor sich und die Zeitung vor sich studierend. Er trug dunkle Hosen, ein weißes enges Hemd, dessen erste Knöpfe lässig geöffnet waren; sein kurzes, blondes Haar war zur Seite gekämmt. Eine Zigarette hing lose in einem Mundwinkel.
Sarah starrte ihn unverblümt an. Sie kannte dieses Gesicht.
„Da bin ich wieder." Matt ließ sich mit einem Seufzen auf die Bank fallen. „Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, wir hatten ja darüber gesprochen, was wir nach diesem Sommer machen. Also ich werde wie mein Bruder nach ...-" Sarah hörte ihm überhaupt nicht zu. Sie nickte gelegentlich und lächelte, suchte aber immer wieder den Anblick des Fremden, der nach wie vor an dem Tisch saß. Als sie ein Klingeln wahrnahm, kehrte ihre Aufmerksamkeit zu Matt zurück. „Oh, entschuldige", meinte dieser und holte sein Handy hervor, „meine Schwester. Ich bin gleich wieder da." Er nahm seinen Anruf entgegen, erhob sich und telefonierte vor dem Diner. Froh über diese Gelegenheit, suchte Sarah wieder nach dem Fremden. Dieser hatte sich nicht von der Stelle gerührt, seine verschiedenfarbigen Augen waren jedoch voller Schalk direkt auf Sarah gerichtet und er lächelte, die Zigarette nun zwischen die Finger geklemmt. Rauchschwaden kringelten sich empor.

Sarahs Hals schnürte sich zu. Sie wollte ihren Blick von ihm reißen, doch es gelang ihr einfach nicht. Der Fremde erhob sich, dämpfte die Zigarette achtlos in dem Kaffee aus und schien sich ihr zu nähern. Nun stockte ihr sogar der Atem; der Mann kam genau auf sie zu!
Tatsächlich ging er langsam an ihr vorbei, immer noch seltsam lächelnd. „Starrst du Fremde immer so an, hübsches Mädchen?", waren seine einzigen, schelmischen Worte, bevor er das Diner verließ und den Duft von Flieder hinterließ; er war fort. Sarah, immer noch peinlich berührt, sammelte sich. Matt kehrte soeben zurück und wollte sich setzen, als Sarah blitzschnell aufstand.
„Ich muss nach Hause, auf meinen Bruder aufpassen. Tut mir Leid, Matt", stieß Sarah ihre schlechte Ausrede hervor und wartete nicht einmal eine Antwort ab, sondern lief einfach aus dem Diner und ließ einen ratlosen Matt zurück.
Sarah rannte, so schnell ihre Füße sie trugen; sie lief sämtliche Straßen und Gassen zu ihrem Elternhaus entlang. Als sie ankam, hatte sie fürchterliches Seitenstechen, rang um Atem und Schweißperlen hatten sich auf ihrer Stirn gebildet. Die Hitze der Mittagssonne stach auf sie hinunter.
Eilig betrat sie das Haus. „Dad? Jemand zu Hause?" Niemand antwortete ihr, also ging sie etwas entspannter als zuvor die Treppen zu ihrem Zimmer hoch. Dort angelangt, schloss sie die Tür hinter sich und ließ sich mit einem erschöpften Seufzer auf ihr Bett fallen. Nur für einen kurzen Augenblick würde sie die Augen schließen, um zur Ruhe zu kommen und nicht völlig den Verstand zu verlieren. War sie tatsächlich in das Labyrinth zurück gekehrt - oder war alles nur ein Traum gewesen, und ein solcher Ort hatte stets in ihrer Fantasie existiert? Und doch fühlte es sich so real an ...

I will be your slaveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt