... leise, klassische Musik. Sarah rappelte sich auf und verharrte, während ihr Körper aufgrund der unbequemen Lage verkrampfte. Sie lauschte kurz, um sicher zu gehen, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Die Musik war tatsächlich da, sie bildete sie sich nicht nur ein.
Darauf bedacht, keinen Lärm zu machen, stand sie auf und schlich auf Zehenspitzen zu ihrer Zimmertür. Sie hatte gerufen, als sie das Haus betrat, doch niemand hatte geantwortet, sie musste also alleine sein – warum also spielte die Musik? Sie wusste, dass ihre Eltern hauptsächlich Jazz-Platten besaßen. Nur einmal im Jahr erklang klassische Musik im Haus der Williams, wenn ...
Sarah legte ihre Hand um den Knauf, öffnete die Tür vorsichtig und lugte durch den Spalt. Nichts regte sich, nur die Musik erklang weiterhin. Doch aus welchem Zimmer kam sie? Sie neigte ihren Kopf in jede Richtung. Die Musik kam nicht aus Tobys Zimmer oder von unten, so viel war sicher. Sie lehnte sich an die Tür zu dem Schlafzimmer ihrer Eltern. Die Musik kam eindeutig aus diesem Raum.Mit laut klopfendem Herzen öffnete sie die Tür und spähte in das Zimmer. Die Vinylscheibe drehte sich auf dem alten Plattenspieler, der auf einer Kommode in der Nähe des Bettes stand. Eine Vase mit frischen, bunten Blumen verströmte den betörenden Duft einer Sommerwiese. An dem Frisiertischchen saß eine Frau, deren Gesicht Sarah nicht sehen konnte, da der Spiegel seltsamerweise beschlagen war. Sie wusste, dass nicht ihre Stiefmutter vor ihr saß und sich das Haar kämmte; ihr dunkelbraunes, glänzendes Haar fiel glatt über ihren Rücken. Leise die Melodie des Liedes nachsummend, fuhr sie weiter fort.
Sarahs Mund war fürchterlich trocken. Weiße Fünkchen flatterten vor ihren Augen. Sie war so aufgeregt und gleichzeitig angsterfüllt, dass sie befürchtete, ohnmächtig zu werden. Die Platte endete, nun war nur noch das Schleifen der Nadel darauf wahrzunehmen.
Die Frau hatte die Bürste zur Seite gelegt. Sie streckte ihre Hand in Richtung des Spiegels und fuhr mit der Handfläche darüber, sodass Sarah einen Blick erhaschen konnte und glaubte, sie selbst saß vor dem Spiegel. Zwei große, ausdrucksstarke Augen blickten auf sie zurück; die vollen Lippen war zu einem freundlichen, sanften Lächeln gekräuselt und bildete kleine Lachfältchen an ihren Augen. Das dunkle Haar umrahmte das schmale Gesicht.
Sarah bedurfte keiner weiteren Erklärung, sie wusste sofort, wer vor ihr saß.
„Meine kleine Sarah", begann ihre Mutter sanftmütig, „es ist so schön, dich zu sehen."
Sarah rang um Fassung. Tränen brannten in ihren Augen, die sie nicht zurückhalten konnte und die ihr heiß über die Wangen schossen. Ihr Mund öffnete und schloss sich, ohne auch nur einen Laut von sich gegeben zu haben. Es war unmöglich, was da gerade geschah.
Ihre Mutter hatte sich erhoben und war auf sie zugekommen, fiel ihrer Tochter jedoch nicht gleich um den Hals. Sie spürte Sarahs Angst und Verzweiflung, wusste, dass sie nichts überstürzen durfte und griff daher nur nach ihrer Hand. Sarah zögerte zuerst, ließ diese Person – die offensichtlich ihre Mutter war, aber das konnte doch nicht sein?! – gewähren, um sich selbst zu vergewissern, dass sie nicht träumte.
Die Hand ihrer Mutter fühlte sich so warm und weich an; sie spürte den sanften Druck und glaubte, allmählich den Verstand zu verlieren. Sie verharrten lange in jener Position, bis sich Sarah halbwegs beruhigt hatte und letztendlich in die Arme ihrer Mutter fiel. Gierig sog sie den Duft des Haares ihrer Mutter ein, als wäre es ihr letzter Atemzug.
„Wie kann das sein ...", schluchzte Sarah, „wie kannst du hier sein, wenn ..."
„Sch-sch." Beruhigend wiegte ihre Mutter sie in ihren Armen, strich ihr dabei über den Rücken. „Wichtig ist doch, dass wir beide jetzt hier sind. Lass dich ansehen." Sie nahm das Gesicht ihrer Tochter zwischen ihre Hände, betrachtete sie und lächelte breit.
„Wie wunderschön du doch bist. Eine schöne, kluge junge Frau", flüsterte ihre Mutter und auch sie musste mit den Tränen kämpfen.
Sarah hatte sie vermisst, an manchen Tagen so sehr, dass sie glaubte, ihr Herz würde zerreißen vor Kummer. Sie war noch klein gewesen, als ihr Vater leise schniefend in ihr Zimmer gekommen war, seine Tochter hochgenommen und lange gehalten hatte. Mit zitternder Stimme hatte er ihr erklärt, dass ihre schwer kranke Mutter nun ein gesunder und schöner Engel wäre, aber stets über die Familie wachen würde. Sarah hatte ihm damals geglaubt, doch als sie älter wurde, war ihr bewusst geworden, dass ihre Mutter für immer fort war. Ihr Vater hatte nur wenige Jahre nach dem Tod seiner Frau erneut geheiratet, Linda, da er der Meinung war, dass seine Tochter eine Mutter brauchte. Sarah hatte ihm an den Kopf geworfen, dass sie bereits eine hatte, auch wenn diese tot war – und war türenknallend in ihr Zimmer verschwunden. Ihr war egal gewesen, wie sehr sie ihren Vater mit diesen Worten verletzt hatte. Sie hätte ihre Mutter in so vielen Momenten gebraucht.
Die Beziehung zu ihrer Stiefmutter, Linda, hatte sich erst nach Tobys Entführung gebessert – dennoch hatte sie sich ihr niemals völlig öffnen können.
Nun saß sie hier und blickte in das strahlende Gesicht ihrer längst verstorbenen Mutter.
„Das hier ist nicht real, nicht wahr?" Sarah schritt durch den Raum und berührte dabei Gegenstände, als könnten diese sich jeden Augenblick in Luft auflösen. Sie wandte sich zu ihrer Mutter um, die sich nicht vom Fleck bewegt hatte.
Sie lächelte ihre Tochter warm an. „Warum sollte es das nicht sein? Wir sind hier, in unserem Zuhause, Schatz. Es ist alles in Ordnung." Sie kam auf Sarah zu, doch diese hob abwehrend ihre Arme. Überrascht und mit enttäuschter Miene hielt ihre Mutter inne.
Sarah fuhr sich durch ihr Haar. „Warum erinnere ich mich dann daran, dass du gestorben bist? Du kannst doch nicht behaupten, dass Dads Trauer, dass Linda und Toby Williams nur eine Einbildung von mir waren!" Irgendetwas stimmte hier doch nicht. Sarah fühlte eine leichte Übelkeit in ihr aufsteigen.
„Ach Schatz, vielleicht bist du nur müde. Komm, leg dich ein wenig hin. Ich koche uns derweilen ein wenig Tee." Ihre Mutter hatte ihre Arme beschwichtigend ausgebreitet. Ein flehentlicher Ausdruck lag auf ihrem Gesicht.
Langsam schüttelte Sarah ihren Kopf. „Es ist alles viel zu einfach ...", murmelte sie und musterte nachdenklich den Boden, bevor sie sich wieder ihrer Mutter zu wandte. „Ich bin nicht Zuhause, und du bist nicht wirklich hier, Mum. So sehr es auch weh tut, aber du bist gestorben und kannst nicht hier sein." Sie schluckte und schob ihre Trauer im Geiste von sich fort.
„Aber es kann doch zu deiner Realität werden, oder nicht?" Tränen glitzerten in den blauen Augen ihrer Mutter, während ihre Stimme zitterte. „Wir können wieder zusammen sein, Sarah. Das ist doch alles, was zählt. Mein kleines Mädchen, du hast mir so gefehlt. Lass uns neu beginnen-"
Sarah wich erneut zurück, schüttelte diesmal den Kopf nachdrücklicher. Ihr Hals schnürte sich zusammen, als sie die Verzweiflung ihrer Mutter sah, jedoch nichts dagegen tun konnte.
Sie nahm die große Schneekugel, die auf der Kommode stand, und schüttelte sie; die Glitterfunken waberten wild in der Flüssigkeit umher, ehe sie auf den Grund zurücksanken.
„Nichts ist, wie es scheint", sagte Sarah, holte mit den Armen weit aus und warf die Kugel mit voller Wucht auf den Boden; ihre Mutter gab einen überraschten Laut von sich. Das dicke Glas barst und hinterließ ein erdiges Loch im Boden. Fast im selben Augenblick begann das Haus unheilvoll zu knarren und ächzen, während sich die Öffnung immer weiter auftat und langsam das Mobiliar verschlang. Der Kristalllüster krachte hinab und riss einen Teil der Decke mit sich; Sarah legte schützend ihre Arme vor das Gesicht.
„Weine nicht um mich, mein kleines Mädchen. Wir werden uns wiedersehen", hörte sie die flüsternde Stimme ihrer Mutter ganz nah an ihrem Ohr, doch als sie die Arme wieder gesenkt hatte, waren weder das Haus, noch ihre Mutter zu sehen. Finsternis hatte sich über Sarahs Augen gelegt.
DU LIEST GERADE
I will be your slave
FantasySarahs Rückkehr aus dem Labyrinth liegt einige Jahre zurück, und doch holen sie die Erinnerungen immer wieder ein. Als ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt wird, ist sie gezwungen, zurück zukehren, sich neuen Problemen und Gefühlen zu stellen - u...