Within you

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 Sarah war so unglaublich müde, als sie langsam erwachte, dass sie die Augen dennoch geschlossen hielt. Einige lose Haarsträhnen kitzelten ihr Gesicht, doch die Erschöpfung hatte von ihrem Körper Besitz ergriffen, sodass sich ihre Knochen schwer und bleiern anfühlten. Unter ihren Händen fühlte sie kühle, glatte Seide und einen weichen Untergrund.
Der brennende Schmerz von den zahlreichen Wunden kehrte zurück, sodass an Schlaf nicht länger zu denken war und Sarah unwillkürlich blinzeln musste; über ihr war nichts als ein wolkenverhangener, grauer Himmel zu sehen. Erst jetzt bemerkte sie die leichte Brise an Wind. Irritiert setzte sie sich auf, stützte sich dabei mit den Armen ab und ließ ihren Blick schweifen, um sich orientieren zu können.

Ihr war schnell klar, dass sie sich in luftiger Höhe befand, da sie von ihrem Standpunkt aus beinahe das gesamte Labyrinth überblicken konnte. Sie fand sich auf einem Bett, das von Kissen übersät war, wieder, und stellte fest, dass ihre nasse und schmutzige Kleidung fort war; stattdessen trug sie ein weißes, langes und einfaches Kleid, das ihren zerschundenen und malträtierten Körper bedeckte. Nur die Schnitte an Händen, Hals und Gesicht blieben sichtbar, hatten jedoch aufgehört zu bluten.
Das dunkle, vom Regen gekräuselte Haar fiel offen auf ihren Rücken.
Das Unwetter schien ihr doch gefolgt zu sein. Die Wolken bildeten eine dunkle Decke über ihr und der Wind nahm zu; immer wieder durchbrach ein unheilvolles Leuchten die dichten Wolken. Vorsichtig erhob sie sich und spürte, wie ihr Körper unter der Belastung litt, sodass sie sich nur langsam von dem sicheren Bett fort bewegte. Mit kleinen Schritten näherte Sarah sich dem Ende der kreisrunden Plattform; mit ihren Füßen hatte sie einige kleine Steine gelöst, die nun lautlos in die Tiefe, die sich vor ihr auftat, stürzten.

Sie befand sich tatsächlich auf einem der Türme des Schlosses, konnte sich aber nicht daran erinnern, dass einer von ihnen so hoch gewesen war. In der Ferne erkannte sie das Gefängnis, dem sie zuvor noch entflohen war; aus dem Abgrund stiegen immer noch jene Lichter auf, die sie ignoriert hatte. Was sollte all das bedeuten?
Die wiegenden Baumkronen, sowie das Wasser des Burggrabens, das einheitliche Wellen schlug, wirkten beinahe hypnotisierend, sodass Sarah nur für einen kurzen Augenblick die Augen schloss, um ...
„Das solltest du nicht tun", raunte der König der Kobolde hinter ihr. Sarah erschrak so sehr, dass sie taumelte und schließlich mit flatterndem in die Tiefe stürzte, nicht ohne einen gellenden Schrei auszustoßen, der jedoch abrupt unterbrochen wurde und einem überraschten und sprachlosen Ausdruck ihrerseits wich.

Jareth bekam ihr Handgelenk zu fassen, und zum ersten Mal fühlte sie – bis auf jenen flüchtigen Kuss, bei dessen Erinnerung sie jetzt noch erschauderte, - seine Haut auf der ihren. Sein Griff war fest, doch er tat ihr nicht weh. Alles ging so schnell, dass Sarah Mühe hatte, mitzubekommen, was geschah: für einen Bruchteil von Sekunden starrten beide einander an, Sarah, mit schreckensgeweiteten Augen in der Tiefe hängend, und Jareth, dessen Blick sie wie so oft, nicht deuten konnte. Etwas Entschlossenes lag darin, das stand fest.
Mit einem kurzen Ruck zog er an ihrem Handgelenk und plötzlich wirbelte Sarah japsend durch die Lüfte, ehe sie in Jareths Armen landete und sogleich sanft abgesetzt wurde.
Eine Sekunde lang drehte sich alles vor Sarahs Augen, sodass sie sich mit den Armen auf ihren Knien stützen musste, doch dann wirbelte sie herum, und tat etwas, womit sie selbst nicht gerechnet hatte: sie versetzte dem König der Kobolde eine derart schallende Ohrfeige, dass, als er sich ihr langsam wieder zuwandte, blaues Blut aus dem Mundwinkel sickerte. Blaues Blut?, dachte Sarah in jenem Moment, doch ihr eigenes schien gerade in ihren Adern zu gefrieren.  

 Sie fixierte ihn alarmiert, als seine Finger an jene Stelle glitten und er sodann mit leiser Überraschung das schimmernde Blut an den Kuppen betrachtete, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder ganz Sarah widmete, die zurück gewichen war. In seinen Augen schimmerte ein gefährlicher Glanz, als er ihren Blick erwiderte; er streckte seinen Nacken, kam einen Schritt auf sie zu, schwieg jedoch.
Erst jetzt bemerkte Sarah den tiefschwarzen, langen Umhang, der wie ihr Kleid im zunehmenden Wind flatterte; er war vollkommen in schwarz gehüllt, wodurch sein helles Gesicht und die stechenden Augen noch besser zur Geltung kamen. Er wirkte majestätisch – und bedrohlich.
Seine Augen waren es stets gewesen, die sie gefürchtet hatte: sie konnten so grausam, kalt und rachsüchtig sein, gefährlich und womöglich tödlich - aber auch anders ... und doch konnten sie sich völlig unerwartet ändern, und es war besser, dann schnellst möglich zu laufen.

Sarahs Magen verkrampfte, als sie das dünne Rinnsal an Blut entdeckte, das immer noch aus seinem Mundwinkel sickerte. Sie bedauerte ihre überschlagende Reaktion ein wenig, doch um ein Haar wäre sie wegen ihm beinahe in den sicheren Tod gestürzt; er brachte sie ständig in Gefahr, und da war auch noch die Tatsache, dass er sie auf der Lichtung zurückgelassen hatte, und dass er anfänglich seine Spielchen mit ihr getrieben hatte, und da war dieser Kuss ...
„Ich schätze, diesen Schlag habe ich verdient", hörte sie Jareth sagen, der sich das Blut erneut fortwischte. Er lächelte Sarah an, schloss dann die Augen.
Sarah beobachtete erstaunt, wie sich die kleine Wunde allmählich schloss und schließlich gänzlich verschwand, als wäre nie etwas geschehen. Er war wieder vollkommen makellos.
„Fürchte mich nicht länger, Sarah. Bitte." Seine Stimme strahlte eine solche Ruhe aus, das Sarah nicht länger zurück wich. Sie konnte die Traurigkeit darin deutlich hören, sodass sie ihn nur mit großen Augen anblickte, als er vor ihr stehen blieb und ihren Blick mit seinem fing.
Sie sah zum ersten Mal seine Hände, als er ihr eine breite Strähne ihres braunen Haars hinter das Ohr legte: seine Finger waren feingliedrig, die Fingernägel länglich und spitz zulaufend, und überrascht stellte sie fest, dass seine Handrücken dunkle, kreisartig ineinander verschlungene Symbole zierten.
„Ich trage diese Zeichen, seit ich existiere", erklärte Jareth. „Doch sie waren nie derart präsent. Erst ... als ich dich traf, veränderten sie sich und wurden nach und nach dunkler. Schwarz sind sie erst, seitdem du in meiner Bibliothek zusammen gebrochen bist ... und ich versuchte, dich zu heilen."

Alles begann sich für sie zu drehen. „Das ... warst du?", fragte Sarah leise und spürte, wie die Tränen langsam aufstiegen. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt solche Angst gehabt, hatte sich so hilflos und allein gefühlt. Er hatte also jenes gleißende Licht mitgebracht, das sie wie ein leichter Schleier umgeben hatte, es war die Wärme seiner Berührungen gewesen, die sie so sehr genossen hatte. Sie konnte nur erahnen, wie viel Kraft ihn dieser Augenblick gekostet haben musste. Derjenige, den sie stets für ihren Feind gehalten hatte, war bei ihr gewesen.
Sie musste sich erst selbst beruhigen, bevor sie zu sprechen begann. „Was bedeutet es für dich, dass sie sich verändert haben?" Schuldgefühle legten sich wie ein Korsett, das immer enger geschnürt wurde, um ihre Brust. Sie griff mit rasendem Herzen nach seiner Hand, nicht wissend, wie er darauf reagieren würde. Er ließ sie jedoch gewähren. Seine Hand fühlte sich seltsam kühl in ihrer an, als sie die Symbole betrachtete.

Jareth beobachtete sie nach wie vor. „Ich habe einen Teil deines dir vorbestimmten Schicksals aufgenommen", sprach er sanft und sie spürte, wie sich seine Finger vorsichtig um ihre Hand schlossen. Die Wirkung seiner Worte, obwohl er mit Bedacht die Worte gewählt hatte, trafen Sarah wie ein Schlag ins Gesicht. Im tiefsten Inneren ahnte sie, was er meinte, wollte es jedoch nicht wahrhaben. Sie konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken, und auch die Tränen bahnten sich ihren Weg.
Mit einem sanften Ruck zog der König der Kobolde die junge Frau an sich, die sich nicht dagegen wehrte. Der lange Umhang umschloss beide, als Sarah hilflos schluchzend, dann hemmungslos weinend in seinen Armen lag, die sich fest um sie gelegt hatten. Er spürte, wie sich ihre Finger in den samtenen Stoff seines Jacketts gruben. „Du bist krank, Sarah. Und meine Macht ... reicht nicht aus, um dich zu heilen ..." In ihm brannte die unbändige Wut darüber, dass er ihr nicht helfen konnte, und er sich letztlich gerade selbst eingestanden hatte, dass seine Kräfte begrenzt waren – insofern hatte die Alte also recht behalten.
Mit geschlossenen Augen nahm er den lodernden Schmerz und die Verzweiflung, die Sarah ausstrahlte, in sich auf. Er begann, sie zärtlich in seinen Armen zu wiegen und summte dabei das Lied, das für sie, immer nur für sie, gegolten hatte. As the world falls down, I'll be there for you.

Der König spürte, wie sich ihr Körper merklich in seinen Armen entspannte. Er wusste, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. Es war soweit.
„Sarah ..." Eine Hand strich über das dichte Haar, dann nahm er ihr Kinn zwischen seine Finger und hob ihren Kopf an, sodass er in die von den Tränen geröteten Augen blickte. „Es gibt noch eine letzte Geschichte, die ich dir erzählen muss. Siehst du diese Lichter, dort, am Horizont?" Er ließ von ihr ab und zeigte in jene Richtung. Es mussten mittlerweile hunderte dieser seltsamen Leuchtgestalten sein, die aus dem Abgrund gekommen waren; sie bewegten sich langsam auf den Turm zu. „Es gibt noch eine letzte Geschichte, die ich dir erzählen muss, bevor du deinen letzten Kampf antrittst. Komm."
Seine Hand strich über ihre Wange zu ihrem Nacken, wo sie ruhen blieb; sein Gesicht näherte sich ihrem so nahe, dass Strähnen seines wilden Haars sie kitzelten, doch seine Augen hatten sie gefangen und ließen sie alles andere Unwichtig erscheinen. Der Duft des Flieders, den Sarah seit der Umarmung wahrgenommen hatte, benebelte sie.
Als seine Lippen schließlich zaghaft die ihren berührten, sich seltsam vertraut, warm und weich anfühlten, durchfuhr Sarah eine reißende Flut an Gefühlen; sie fühlte zum ersten Mal in ihrem Leben, wie sich wahre Geborgenheit anfühlte, egal, was noch passieren sollte, sie fühlte eine nie dagewesene Wärme, die durch ihren Körper pulsierte und sie ihre Arme um den König der Kobolde legen ließ, als sie seinen Kuss nachdrücklich erwiderte, der Sarahs Schicksal mitbestimmen sollte ...  

I will be your slaveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt