Offenbarung des Königs

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Jene Erinnerung verblasste und Sarah fand sich erneut im Thronsaal wieder. Der König saß in dem großen Fenster, betrachtete angestrengt die drei Kristalle, die er geschickt zwischen seinen langen behandschuhten Fingern balancieren ließ. Sarah spürte die Anspannung, die von seinem Körper ausging; er schien mit seinen Gedanken an einem völlig anderen Ort zu sein.
Er hatte seine spitzen, dunklen Augenbrauen zusammengezogen, sodass sich kleine Fältchen auf der sonst makellosen Haut bildeten. Immer wieder durchbrach ein leises, ungeduldiges Schnaufen seinerseits die Stille, die im Saal herrschte. 
Mit einer schnellen Handbewegung beschwor er einen weiteren Kristall, den er sanft auf die anderen gleiten ließ; das durchs Fenster fallende Licht brach sich in den Kugeln und warf farbige Funken an die Wände. Fasziniert beobachtete Sarah das Schauspiel, war sich jedoch immer noch nicht im Klaren, worauf Jareth zu warten schien. Dieser hatte zwischenzeitlich die Augen geschlossen, ließ die Kugeln immer noch gleiten. Als es bereits zu dämmern begann, ließ er die Kristalle jedoch verschwinden, zog sein Bein an und ließ das andere aus dem Fenster hängen, während er den orangeroten Sonnenuntergang beobachtete.
Sie wird es nicht tun. Das Flüstern seiner Gedanken traf sie unerwartet und so hart, dass ihr schwindlig wurde. Er hatte kein Wort gesprochen, nicht einmal die Miene verzogen, und dennoch spürte Sarah eine vibrierende, beunruhigende Macht. Was meinte er damit?
Nachdem die Sonne untergegangen war, hatte sich Jareth in seine Gemächer zurückgezogen, nicht ohne vorher grundlos einen Diener, der den Steinboden in einem der unzähligen Korridore fegte, zur Schnecke gemacht zu haben und einem weiteren Kobold, der unglücklicherweise einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war, einen nicht allzu festen Stiefeltritt zu verpassen. 
Seine Laune war unsäglich schlecht, sodass sie sich sogar in einem sich langsam anbahnenden, unheilvollen Gewitter manifestierte – die Dienerschaft, die seine Gemütszustände nur zu gut kannten, war bereits drauf und dran, die Fensterläden und Türen gut zu verriegeln, um gröbere Schäden durch das von Jareth beschworene Unwetter zu vermeiden. Sie wussten aber auch, dass jene Laune nie von allzu langer Dauer war und die Situation sich bald beruhigen würde.
Jareth lief indessen unruhig in seinem Schlafgemach umher, die Arme hinter dem Rücken. Er knurrte leise, während zeitgleich ein Donnergrollen erklang und sich zu dem Regen gesellte, der eingesetzt hatte.
Seine Gedanken überschlugen sich, sodass Sarah nichts als einen Schwall an ungesagten Worten wahrnahm, der sie allmählich verrückt machte. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass der König derart nachdenklich sein konnte; vielmehr hatte er ihr immer das Bild eines arroganten, herrschsüchtigen Mannes vermittelt, der sich nur seinem Spaß widmete und keinerlei Interesse an anderen Wesen zeigte, wenn sie nicht gerade seinem Nutzen dienten. Das Verhalten, das er jetzt zeigte – seine Augen, vor allem – sprachen anderes.
Der König hielt inne, verharrte regungslos – die Flut seines Gedankenflüsterns brach abrupt ab, sodass letztendlich nur noch das Donnergrollen zu hören war. Hatte er etwas gesehen oder gehört, das Sarah verborgen geblieben war? Er schloss seine Augen, wirkte konzentriert.
Die Tür zu seinem Gemach wurde mit einem lauten Knall aufgestoßen und ein Goblin kam laut schnaufend, hereingestürzt. Jareth schenkte ihm trotz des ohrenbetäubenden Lärms, den die kleine Gestalt verursachte, keinerlei Beachtung; er runzelte lediglich ein wenig die Stirn.
„Eure Majestät! Mein König, sie wird es möglicherweise tun!“, prustete der Goblin. „Sie hat nur noch nicht die richtigen Wor-“
„Raus.“ Er erhob seine Stimme dieses Mal nicht gegen seine Diener, so wie er es sonst tat; mit der einen Hand rieb er sich die Stirn und die andere reckte er in Richtung Tür. Der Goblin starrte seinen Meister irritiert an, hatte dieser doch noch nie so mit ihm oder den anderen gesprochen. Jedenfalls wusste er, dass es besser war, seinem Befehl jetzt Folge zu leisten, also machte er auf dem Absatz kehrt und lief, so schnell ihn seine kurzen Beinchen trugen. Es war besser, die anderen zu warnen – jenes Verhalten des Königs war neu … und womöglich gefährlich.
‚... Koboldkönig, Koboldkönig, wo auch immer du bist, nimm dieses Kind und bring es weit weg von mir!‘
Er schlug seine Augen auf, in denen ein seltsamer Glanz lag. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem angedeuteten Lächeln, ehe er seine Gestalt wandelte und als Eule entgegen des Gewitters flog.

I will be your slaveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt