Der Maskenball - I

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  Der schwere Duft von Patchouli legte sich wie ein Schleier über den gigantischen Saal, in dem das Mädchen sich wiederfand. Sie verharrte an Ort und Stelle, ließ den Blick schweifen, bevor sie es wagte, einen Schritt nach vorn zu setzen. Alles war so prachtvoll und erinnerte sie an die zahlreichen Märchen, die sie gelesen hatte: riesige, helle Kronleuchter, überall verkleidete und maskierte Menschen, die tanzten und lachten; gedeckte Tische mit allerlei Köstlichkeiten und Weinkaraffen, große Kissen, die zum Verweilen einluden.
Dies musste einer der vielen Träume sein, die sie immer wieder herbeisehnte, wenn sie der Realität und ihren Problemen entfliehen wollte. Mit ihrem weißen, pompösen Kleid zog sie die Blicke der anderen auf sich; die winzigen Edelsteine, mit denen es bestickt war, brachen das Kerzenlicht und ließen sie hell schimmern. Das dunkle, lange Haar fiel offen auf ihren Rücken, nur gemeinsam mit silbernem Band, das darin eingeflochten war. Sie fühlte sich wie eine Prinzessin – hier wurde sie wenigstens wahrgenommen, nicht so wie sonst, wenn ihre Stiefmutter sie erneut zum Babysitten verdonnerte, dabei keine Rücksicht auf Sarah nahm und ihr Vater, so wie er es immer tat, nichts dagegen sagte, sondern nur Augen für seine neue Frau und das Baby hatte. Sie gehörte einfach nicht mehr zu dieser Familie, fühlte sich ausgestoßen. Ihre Wünsche zählten nichts.
Sie begann, langsam durch die Menge zu streifen und ließ den Blick dabei wandern. Wenn sie tatsächlich eine Prinzessin war – jedenfalls stach sie unter den Gästen hervor – dann musste es doch auch einen Prinzen geben?

Der König beobachtete sie durch die Menge hindurch; mal in der Drehung eines Tanzes mit einer seiner Schaffungen, mal in einiger Entfernung. Anhand ihres Blickes erkannte er, dass sie nach jemandem suchte; doch würde sie ihn erkennen, wenn er sich ihr zeigte? Hatte der Zauber gewirkt und sie hatte alles vergessen, was zuvor geschehen war?
Mit seiner Illusion hatte er sich wahrlich selbst übertroffen; der Saal zeigte sich dank seiner Magie in größter Pracht. All das interessierte ihn nicht weiter. Seine Augen folgten nur dem einzigen Wesen, das er nicht geschaffen hatte und seine Sinne ganz ohne Zauberei in ihren Bann zog.


Sarah hörte leise Musik zu ihr vordringen, doch ihre Konzentration galt ganz der Situation, in der sie sich befand. Die vielen maskierten Gesichter, die ihr folgten, machten sie nervös und ließen die Angst allmählich in ihr hochkriechen. Erst spürte sie nur streifende Berührungen, dann griffen die ersten Hände nach ihr, sodass sie erschrocken zurückzuckte, was mit einem boshaften Lachen quittiert wurde. Sollte sich ihr schöner Traum denn in einen Albtraum wandeln?
Ihr Blick blieb an einem Mann hängen, der aus den anderen Gästen hervor stach; er trug enge, dunkle Hosen, dazu ein weißes Rüschenhemd und ein Jackett, das in vielen Blautönen schimmerte. Er bedeckte sein Gesicht mit einer abscheulichen Maske, bis er Sarahs Blick wahrgenommen zu haben schien und sich ihr zeigte.
Sarah konnte nicht anders, als ihn anzusehen. Er erwiderte ihren Blick unmissverständlich, indem sich ein leises Lächeln auf seinen schmalen Lippen spiegelte. War er der Prinz, nach dem sie suchte? Er ... war fort.
In der Sekunde eines Lidschlags war er fort und Sarah völlig überrumpelt. Sie kümmerte sich nicht mehr um die aufdringlichen Berührungen oder die Tanzenden, sondern bahnte sich eisern den Weg durch die Menge; sie musste ihn finden. Dieses markante Gesicht ... es fühlte sich an, als würde sie es schon eine Ewigkeit kennen. Wie sollte sie ihn jemals in dem Getümmel wieder finden?

Zugegebenermaßen genoss er sein kleines Spielchen, sich ihr nur für den Bruchteil einer Sekunde zu zeigen, um dann genauso schnell wieder zu verschwinden

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Zugegebenermaßen genoss er sein kleines Spielchen, sich ihr nur für den Bruchteil einer Sekunde zu zeigen, um dann genauso schnell wieder zu verschwinden.
So sehr er sich damals gefreut hatte, dass sie das Kind fort gewünscht hatte und zu ihm in das Labyrinth gekommen war, so sehr hatte es ihn verletzt, dass das Mädchen ihn von Anfang an gehasst hatte; also hatte er sich damit arrangiert und daraus erneut ein Spiel gemacht: würde sie es schaffen, ihren Bruder innerhalb von dreizehn Stunden zu retten, wären beide frei. Er war felsenfest davon überzeugt, dass Sarah dieser Vereinbarung nicht zustimmte, doch sie tat es und kämpfte sich nach und nach durch die Gefahren des Labyrinths. Ihr Mut beeindruckte ihn, sodass er ihren Weg durch seine Kristalle beobachtete oder seine zahlreichen Späher einsetzte. Nun war sie also hier, hatte den Pfirsich des Vergessens gekostet und wohl alles vergessen – die Menschenwelt, vor allen Dingen. Mit leiser Besorgnis stellte er fest, dass sie sich fürchtete. Es war an der Zeit.


Sarah hatte die Hoffnung bereits aufgegeben, den Unbekannten zu finden; manchmal glaubte sie, ihn für einen kurzen Augenblick gesehen zu haben, doch sodann war er fort.
Das Blut rauschte in ihren Ohren und die Angst kehrte zurück. Die abscheulichen Masken und Fratzen starrten sie an, lachten, zeigten mit den Fingern auf sie; grapschende Hände und Stimmen, die verruchte Dinge riefen, die Sarah in ihrem jungen Alter noch nicht zu hören bekommen hatte. Wie war sie hierher geraten? Wann würde dieser Albtraum endlich ein Ende nehmen ...?
Plötzlich umgarnte sie der feine Duft von Flieder, der ihr Herz schneller schlagen ließ; als sie sich umwandte, vergaß sie alles.

I will be your slaveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt