Sarah blickte sich irritiert um, bevor sie ihren Bruder aus seinem Bettchen holte und ihn in ihre Arme schloss. Normalerweise musste er jetzt fünf Jahre alt sein, doch hier war er genauso alt wie zu dem Zeitpunkt, als beide aus dem Labyrinth zurückgekehrt waren.
Mit Toby auf ihrem Arm schritt sie zu dem Fenster. Blitze des aufziehenden Gewitters erhellten die Nacht, während der Regen unaufhörlich gegen das Glas prasselte und der Donner leise grollend näher rückte. Ihr Bruder, verängstigt durch die grellen Lichtblitze, begann zu quengeln; Sarah tätschelte beruhigend seinen Rücken und wandte sich von dem Fenster ab, jedoch nicht ohne zuvor die Vorhänge zu zuziehen. Sie ging noch einige Schritte mit dem Baby auf- und ab, wartete, bis er sich beruhigt hatte und legte ihn anschließend in sein Bettchen zurück. Sie entdeckte ihren alten Teddybären, Sir Lanzelot, der auf dem Boden lag. Sie langte lächelnd danach. Nun war er nicht länger ihr Beschützer, sondern der ihres kleinen Bruders.
„Schlaf schön", sagte Sarah, während sie den Bären in Tobys winzige Hände legte und ihm noch einmal zärtlich über den Kopf strich, bevor sie den Raum auf Zehenspitzen verließ, jedoch die Tür einen Spalt breit offen stehen, sodass ein schmaler Lichtstrahl hinein fiel.
Im Flur fuhr sie sich nachdenklich durch ihr langes dunkelbraunes Haar, verharrte kurz und betrat dann ihr eigenes Zimmer. Sie steuerte auf ihr Frisiertischchen zu, ließ sich auf dem gepolsterten Hocker nieder und griff nach ihrer Bürste; erst dann warf sie einen Blick in den Spiegel vor sich und zuckte zusammen, als sie erkannte, dass sie im Gegensatz zu ihrem Bruder älter geblieben war – und nicht nur ihr erschrockenes Gesicht auf sie zurückblickte, sondern noch ein anderes, vertrautes – Jareths. Sarah unterdrückte einen Schrei, indem sie die Hand vor ihren Mund schlug, bevor sie sich schnell umwandte, jedoch niemanden entdecken konnte.
Als sie sich seinem Antlitz wieder zuwandte, hatte er erneut einen Mundwinkel amüsiert hochgezogen. „Du wolltest Antworten, also sollst du sie auch bekommen. Oh, sieh nur, deine Party hat bereits begonnen." Kaum hatte er die Worte zu Ende gesprochen, ertönte Lärm von ihrem Bett kommend, sodass Sarah ihren Kopf unwillkürlich in diese Richtung drehte. Sie entdeckte ihre alten Freunde, Hoggle, Ludo und Sir Didymus, aber auch allerlei andere Wesen des Labyrinths – und sich selbst, wie sie mit ihnen gemeinsam feierte. Ungläubig öffnete sich ihr Mund, als sie ihr herumhüpfendes, fünfzehnjähriges Ego beobachtete. „Nach deinem ... Sieg", ertönte es von dem Spiegel. Auch Jareth hatte das Geschehen beobachtet. „Und nun ... deine Seite der Geschichte kennst du ja bereits. Es wird Zeit für meine."
Jareths Handfläche wurde sichtbar und er blies eine gewaltige Menge silbernen Glitters in ihre Richtung, der sich in ihrer Kleidung und dem Haar verfing; es dauerte nur kurz, bis Sarah ihre Gliedmaßen nicht mehr wahrnehmen konnte; das Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben, als sie bemerkte, dass sich ihre Gestalt sich allmählich auflöste, bis sie schließlich nur noch ihre eigenen Gedanken hörte und dennoch, körperlos wie sie jetzt war, die Umgebung um sie herum sehen konnte; sie befand sich nicht mehr in ihrem Haus, sondern in dem Thronsaal des Koboldkönigs. Weit und breit war keine Kreatur zu sehen, nur der König saß auf seinem Thron, die Beine bequem über die Armlehne gehängt, während er gelangweilt mit dem Gehstock gegen sein Schienbein trommelte. Er schien sie tatsächlich nicht zu sehen, obwohl sie ihm so nahe war, dass sie sein Gesicht hätte berühren können. Gelegentlich seufzte er leise, warf immer wieder einen ungeduldigen Blick auf die Uhr, die dreizehn Stunden anzeigte. Jenes Spiel wiederholte sich einige Male, bis leises Rascheln und Schritte ertönten, die sich ihren Weg die Treppen zum Thronsaal hoch bahnten und schließlich eine rothaarige Schönheit den Raum betrat. Sarah erinnerte sich, sie schon einmal gesehen zu haben. Gebannt beobachtete sie, wie die Frau im langen, saphirblauen Kleid, das einen auffälligen Kontrast zu ihrem leuchtenden Haar bildete, sich Jareth näherte. Dieser kümmerte sich jedoch nicht weiter um ihre Erscheinung und setzte sein ungeduldiges Trommeln fort. Die Rothaarige kniete elegant vor dem Thron nieder, berührte sacht den Oberschenkel des Königs, bevor sie mit besorgter Miene zu ihm hochblickte.
„Mein Gebieter, was habt Ihr denn? Ihr wirkt so bedrückt", sprach sie zärtlich. „Sprecht mit mir darüber." Erst jetzt ließ er ihr Aufmerksamkeit gelten, indem er sie mit seinem üblichen, erhabenen Ausdruck auf dem Gesicht musterte. „Warum sollte ich ausgerechnet mit dir darüber sprechen?", knurrte er schließlich leise, wohl bewusst, wie verletzend er damit klang. „Zudem ich nicht fühle, dummes Ding ... also kann ich nicht bedrückt sein. Oh, das einzige, was ich fühle, ist unsägliche Langeweile." In seinen letzten Worten schwang deutlicher Sarkasmus mit.
Die Frau schien durch seine Boshaftigkeit nicht annähernd verletzt zu sein, denn sie lächelte, als sie die Hand nach seinem Gesicht ausstreckte und mit einer der wirren Haarsträhnen zu spielen begann. „Ich könnte Eure Langeweile jederzeit beenden", gurrte sie mit einer Zweideutigkeit in ihren Worten, dass Sarah sich peinlich berührt abwenden wollte, es allerdings nicht konnte.
Mit einer schnellen Bewegung stieß er ihre Hand von sich fort, während ein giftiger Ausdruck seine Miene zierte und er sich so ruckartig aufsetzte, dass die kniende Rothaarige erschrocken zurück robbte. „Und du vergiss nicht, dass du nur existierst, weil du meine Schöpfung bist", fauchte er. „Du langweilst mich. Ich könnte dich ebenso schnell vernichten, wie ich dich geschaffen habe; natürlich tust und sagst du nur, was du denkst, dass ich gerne hören würde. Das alles hier langweilt mich noch zu Tode. Alles läuft so, wie ich es möchte. Ich halte das nicht mehr aus."
„Aber mein Gebieter-" Doch im nächsten Augenblick ließ der König sie mit einem Schnippen verschwinden, sodass sie keinen Einwand mehr einlegen konnte.
Er sprang von seinem Thron auf und steuerte schnellen Schrittes auf das gewaltige Fenster zu, auf dessen Sims er geschickt kletterte. Sarah wollte schreien, als sie sah, dass er sich soeben in die Tiefe stürzte, doch kein einziger Laut entfuhr ihren Lippen.
Im nächsten Augenblick schoss eine Schleiereule in die Lüfte und Sarah hatte das Gefühl, auf dem Rücken des Tieres zu sitzen; gemeinsam flogen sie immer höher, bis nur noch grelles Licht zu sehen war. Nach und nach kehrten die Konturen der Umgebung wieder zurück: Baumkronen, die im Wind wiegten, Straßenlaternen, die bald die Straßen spärlich beleuchten würden. Die Eule steuerte auf den Park zu, den Sarah nur zu gut kannte; ein romantisches kleines Fleckchen, perfekt zum ungestörten Proben ...
Die Eule ließ sich mit den Flügeln flatternd auf einer Säule nieder und musterte mit wachsamen Augen ihre Umgebung, reckte gelegentlich den Kopf, um besser sehen zu können. Sarah, nun eins mit der Eule, wusste, dass sie exakt hier auf etwas wartete, und dass sie das nicht zum ersten Mal tat.
Ein junges Mädchen in einem beigefarbenen, altmodischen Kleid und Blumenkranz im Haar näherte sich ihnen langsam. Es war in ein Buch vertieft, seine Lippen formten lautlose Worte.
Die Eule fiepte leise, raschelte mit ihren Flügeln; Sarah spürte den schnellen Herzschlag des Tieres, seine Aufregung übertrug sich auf sie.
„Oh, hallo du", begrüßte Sarahs junges Ego das Tier lächelnd, „mir scheint, ich habe dich schon öfters gesehen. Solltest du nicht eigentlich nachtaktiv und scheu sein?" Dann begann das Mädchen, Dialoge aus ihrem Buch vor der Eule zu zitieren, setzte dabei hin und wieder einen äußerst theatralischen Gesichtsausdruck auf oder gestikulierte mit ihren Händen.
Die Schleiereule beobachtete das Treiben still und regungslos, doch Sarah spürte etwas, das sie nicht für möglich gehalten hatte: ehrliches Interesse und Freude; es waren Jareths Gefühle, die sie wie kraftvolle Meereswellen die Küste trafen. Sie konnte fühlen, wie sehr er die Aufmerksamkeit genoss, die ihm Sarahs junges Ego zukommen ließ, und dass er nicht wie sonst boshaft amüsiert war, sondern tatsächlich Spaß hatte.
Nach etwa einer Stunde schlug das fünfzehnjährige Ego das Buch zu und lächelte der Eule erneut zu. „Ja, ich habe dich schon ein paar Mal hier gesehen", stellte sie fest. „Manchmal glaube ich, du beobachtest mich mit Absicht, lächerlich, nicht wahr?" Sie lachte fröhlich. „Aber wer weiß? Vielleicht bist du ja mein Prinz, der von einer grausamen Hexe verwandelt wurde und nun auf den ihn erlösenden Kuss von mir wartet?" Sie warf der Eule eine Kusshand zu, bevor sie einen Blick auf die Turmuhr warf und zusammenfuhr. „Ich muss nach Hause! Bis bald, mein Freund." Sie machte auf dem Absatz kehrt und lief davon.
Die Eule blieb noch eine Weile sitzen. Einzelne Regentropfen begannen, kleine Kreise in die Oberfläche des Teichs vor ihnen zu formen. Erst, nachdem der Regen zugenommen und die Dunkelheit des Abends hereingebrochen war, erhob sich die Schleiereule mit einem leisen Schrei in die Luft. Ihr Flug war nur von kurzer Dauer, da sie bereits nach wenigen Minuten auf dem dicken Ast eines Baumes landete, dessen dichtes Blattwerk guten Schutz vor dem Regen bot, der stark zugenommen hatte. Sie schüttelte ihr nasses Federkleid aus, bevor sie sich dem hell beleuchteten Fenster zuwandte und das Mädchen dahinter beobachtete, wie es mit einer blonden, stark geschminkten Frau diskutierte; sie konnte nicht jedes einzelne Wort verstehen, doch die angespannten Gesichter sprachen Bände für sich. Die Frau verließ daraufhin bald das Zimmer, während das Mädchen wie angewurzelt stehen blieb, die Augen starr auf die Tür gerichtet, die soeben zugeschlagen worden war. Sie bückte sich hastig, grapschte nach dem nächstbesten Gegenstand, einem Stofftier, und warf es der Frau, die schon längst fort war, noch hinterher. Danach warf sie sich bäuchlings auf ihr Bett und schluchzte offensichtlich in ihr Kissen. Das Federkleid der Eule sträubte sich erbost, ehe sie sich erneut in die Lüfte erhob, um in ihr Reich zurück zu kehren.
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I will be your slave
FantasíaSarahs Rückkehr aus dem Labyrinth liegt einige Jahre zurück, und doch holen sie die Erinnerungen immer wieder ein. Als ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt wird, ist sie gezwungen, zurück zukehren, sich neuen Problemen und Gefühlen zu stellen - u...